Der ja gewiss nicht ganz unbedeutenden „Frankfurter Allgemeinen“ war dies (wenn auch nur in ihrer Online-Ausgabe) immerhin eine Schlagzeile wert: „SPD gewinnt, AfD verliert“. Der Gehalt dieser „Sensation“: Das Meinungsforschungs-Institut Emnid ermittelte nach der Wahl des neuen SPD-Führungsduos durch den Berliner Parteitag einen sozialdemokratischen Beliebtheits-Zuwachs um 1 Punkt, von 15 auf 16 Prozent, während die rechtspopulistische Alternative für Deutschland (AfD) von 14 auf 13 Prozent sinke. Sollte das tatsächlich die bedeutendste Folge des dreitätigen Genossen-Konvents sein, dann müsste das nüchterne Urteil lauten: Viel Lärm um praktisch nichts!
„Godesberg“ und der Schwenk zur Mitte
Natürlich würde ein derartiges Verdikt weder dem Anlass noch der Sache gerecht. Trotzdem müssen Vorfeld, Verlauf und Ergebnisse dieses Parteitags nicht nur an Namen, Zahlen, Vorhaben und guten Absichten gemessen werden. Vielmehr könnte auch ein Blick in die – für eine 135 Jahre alte Partei eher jüngere – SPD-Geschichte nützlich sein. Fast exakt vor einem halben Jahrhundert, vom 13. bis 15. November 1959, rangen Traditionalisten und Reformer erbittert miteinander und beschlossen schliesslich das „Godesberger Programm“. Das war der Abschied von einer bis dahin national bestimmten Deutschlandpolitik, einer anti-europäischen Ausrichtung und sozialistisch geprägten Gesellschaftsmodellen hin zur Westbindung der Bundesrepublik, Ja zur Sozialen Marktwirtschaft sowie zur Nato. Kurz: in Godesberg vollzog die SPD einen radikale Schwenk von links in die politische Mitte und wurde damit (verbunden mit einem erstklassigen Personalangebot) auch wählbar für bis dahin ihr fern stehende bürgerliche Kreise.
Mit anderen Worten: damals, also vor ziemlich genau 60 Jahren, begann der Aufstieg der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Mit ihrem Namen und unvergessenen Personen verbinden sich grosse politische Leistungen, die keinen Vergleich zu scheuen brauchen mit denen der konservativen Konkurrenten: Willy Brandt, ohne dessen (seinerzeit heiss bekämpfte) Ostpolitik die deutsche Wiedervereinigung undenkbar wäre; Prof. Karl Schiller und Alex Möller als (allerdings am Ende an den eigenen Genossen gescheiterte) Interpreten eines modernen Umgangs mit Wirtschaft und Finanzen; Helmut Schmidt, ein nach aussen kühler, aber innerlich brennender Mitgestalter des internationalen Geschehens im weitesten Sinne. Zur Wahrheit gehört freilich auch, dass – der in späteren Jahren parteiintern fast mit Heiligenscheinen versehene – Schmidt ebenfalls von der eigenen Gefolgschaft zu Fall gebracht wurde.
Ende des Niedergangs?
Jetzt, ein halbes Jahrhundert nach diesem Aufbruch in die Moderne und zum Erfolg, also „Berlin“ statt „Godesberg“? Ein Ja auf diese Frage verbietet sich einfach schon deshalb, weil kein (im Vergleich zu damals) Ruck vollzogen wurde. Ja, noch nicht einmal ein Schwenk. Natürlich wären Richtungen dafür vorhanden gewesen. Zumindest eine, nämlich nach „links“. Und es ist auch nicht so, dass nicht Heilsprediger dafür geworben hätten. Zumal der Ruf: „Nicht weiter so!“ mittlerweile seit Jahren erklingt, und zwar immer lauter. Vor allem nach den diversen Bundes- und Landtagswahlen, die seit 2005 immer dramatischer für die einstige Volkspartei SPD verliefen. Dieser Niedergang bedrückt keineswegs bloss Parteigänger, sondern im Prinzip jeden, der die Geschichte der Partei mit allen Hochs und Tiefs sowie ihre Leistungen für Staat und Gesellschaft kennt.
Was ist im Vorfeld des dreitätigen Parteikonvents nicht alles geschrieben und prophezeit worden? Es werde einen Rück nach links geben. Damit verbunden sei das Ende der ungeliebten Koalition mit der CDU/CSU und Angela Merkel. Das bedeute dann natürlich automatisch eine ideologische Annäherung an die sich gewandelt gebende Linke – also die „Tochter“ der einstigen DDR-Staatspartei SED. Nichts davon ist eingetreten. Ja, das neue SPD-Führungsduo (eine Premiere) Saskia Eskens und Norbert Walter-Borjans hatte auf der fast halbjährigen Bewerbertour Konkurrenten mit der Forderung aus dem Rennen geworfen, die SPD müsse die Merkel-Koalition verlassen. Nach Tische, sozusagen, klingt das ziemlich anders. Man wolle, heisst es jetzt, mit der Union über bestimmte Wünsche im Bereich der Steuer-, Investitions- sowie Sozial- und Gesellschaftspolitik „sprechen“ – also exakt das tun, was in einer Partnerschaft an sich gang und gäbe sein sollte. Überwindet man so die Phase des Niedergangs?
Donnerndes Sowohl-als-auch
Die Liste der Merkwürdigkeiten liesse sich leicht fortsetzen. Aus Sorge, dass wegen einer Kampfabstimmung um einen Stellvertreterposten (es ging um den Sozialminister Hubertus Heil und den von Jungsozialisten und Parteilinken hochgejazzten Jungstar Kevin Kühnert) ein Bruch in der SPD sichtbar werden könnte, gingen die Parteimanager dieser „Gefahr“ einfach dadurch aus dem Weg, dass die Zahl dieser Posten von 3 auf 5 erhöht wurde. Älteren Zeitgenossen mag da die, natürlich ironisch gemeinte, einstige Aussage des Genossen-Übervaters Willy Brandt eingefallen sein, die SPD sei „die Partei des donnernden Sowohl-als-auch“. Dies, zumal auch der erstmals in den Parteivorstand aufgerückte Kühnert es verstand, an ein und demselben Tag in einem Zeitungsinterview den Ausstieg aus der Grossen Koalition als „eher schädlich“ zu werten und wenig später – auf Twitter – genau das Gegenteil davon in den Äther zu jagen.
Natürlich gibt es Gründe genug für die Genossen, mit ihrer Situation zu hadern und über die Undankbarkeit der Wähler zu jammern. Denn zur Wahrheit gehört, dass die mit Angela Merkel und der Union ausgehandelten, diversen Koalitionsverträge nicht nur mehrheitlich sozialdemokratisch bestimmt waren, sondern auch umgesetzt wurden. Richtig ist auch, dass die gemeinsamen Leistungen vom Wahlvolk letztendlich der Frau an der Spitze gutgeschrieben wurden. Falsch jedoch ist die Behauptung, Merkel und die Union hätten dem Juniorpartner die Erfolge sozusagen geklaut. Das eigentliche Problem der SPD liegt vielmehr bei ihr selber. Oder genauer: in ihrer Mentalität. Das bedeutet, statt auf das von ihr Erreichte stolz zu sein und dies auch hervorzuheben, beklagt man unzufrieden die noch immer nicht erreichten Idealziele. Ob Durchsetzung einer Grundrente oder die für Arbeitnehmer günstige Reform der Krankenversicherung, ob Kinderzuschlag für Geringverdiener oder Erhöhung des Mindestlohns für Pflegehilfskräfte und noch manches mehr – wann hätte man je das Wort „stolz“ aus Genossenmund gehört. Man muss daher schon ein grosser Optimist sein, um zu glauben, mit schlechter Laune und mieser Botschaft Wähler überzeugen zu können.
Der grosse Ruck blieb aus
Und jetzt? Der grosse Ruck ist in Berlin ausgeblieben. Die von Vielen befürchtete Selbstzerfleischung zum Glück aber auch. Letztendlich haben sich die Genossen von der Einsicht leiten lassen, dass ein aus schierer Verzweiflung vollzogener Austritt aus einer – im Prinzip doch recht gut arbeitenden – Koalition mit anschliessenden Neuwahlen wohl den Selbstmord aus Angst vor dem Tode bedeutet hätte. Es wird nun spannend sein, zu beobachten, wie es weitergeht. Schon jetzt wird medial am neuen Führungsduo Eskens/Walter-Borjans gekratzt. Natürlich werden Angela Merkel, Annegret Kramp-Karrenbauer und die Union sich den Forderungen nach Gesprächen über bestimmte politische Themen nicht verschliessen. Doch dass es zu bedeutenden, über die Koalitionsvereinbarungen hinausgehenden Zugeständnissen kommen wird, ist doch sehr fraglich.
Früher sangen die Genossen gern und aus voller Brust das alte, 1914 von dem Hamburger Hermann Claudius geschriebene Lied der Arbeiterschaft „Wann wir schreiten Seit’an Seit’“ mit dem Hoffnung gebenden Ende „Mit uns zieht die neue Zeit“. Die alte gewordene SPD braucht, fraglos, eine neue Zeit. Nur wo und in welcher Richtung sie diese finden wird, steht auch nach dem Berliner Parteitag in den Sternen.