Nochmals Neues lesen zu können von Jörg Steiner ist ein unerwartetes Geschenk. In diesen Tagen vor drei Jahren, am 20. Januar, starb der Bieler Schriftsteller mit 83. Nun sind in einem Bändchen an die 130 Karten zugänglich geworden, die er von 1997 bis 2012 seiner Freundin Hanne Kulessa schrieb. Sie entschloss sich wegen der literarischen Qualität zur Publikation.
Ans Licht gehobener Schatz
Das war klug bedacht, auch sorgfältig - im Einvernehmen mit den direkten Nachkommen Steiners, den beiden Töchtern Rachel und Sarah - das Private schützend. Auf den Karten wurden die Anreden entfernt. Einige Karten fehlen, weil sie noch lebende Drittpersonen nachteilig betreffen könnten.
Vor allem aber fehlen jene Karten, die von Hanne Kulessa, Autorin und Journalistin in Frankfurt am Main, an den zwanzig Jahre älteren Steiner gingen. Nicht ein Kartenwechsel sollte dokumentiert, sondern der von der Editorin als wichtiger beurteilte Textschatz ans Licht gehoben werden. Auf Anmerkungen wurde verzichtet.
Steiner schrieb von Hand auf Blankokarten im Format A 6, Kulessa verwendete Kunstkarten. Gelegentliche Reaktionen darauf geben Hinweise auf die Sujets.
Einblendungen und Ausblendungen
Die beiden Kartenpartner lernten sich kennen, als Steiner 1997/98 eines der literarisch reputiertesten Ehrenämter versah, nämlich das des Stadtschreibers in Bergen-Enkheim, dem nordöstlichen Stadtteil der Mainmetropole.
Im Wissen um den intensiven Dialog bietet dessen Beschränkung auf den Monolog interpretatorisch einen besonderen Reiz. Die Lücke verwandelt sich zum spannend hinzugefügten Spielraum für Fantasien. Sie werden erst noch dialektisch beflügelt. Denn der die Korrespondenz auslösenden Person gelingt der Schritt hinter die Bühne bloss als Täuschung. In Wahrheit ist Hanne Kulessa stets gegenwärtig. Stärker als betont unsichtbar kann Präsenz nicht sein.
Entstanden ist eine so ungewöhnliche wie anregende Montage, die Einblendungen und Ausblendungen verschränkt und Anwesenheit und Abwesenheit verwischt. Die Wirkung fasziniert.
Zwei Zeilen lang können wir das Zwiegespräch direkt nachvollziehen. Steiner bat seine Freundin, die Passage einer Karte mit einem Satz zu ergänzen. Er lautete, "- von allem, was es zu sagen gibt, ist mir das Unwichtigste das Liebste", und findet sich auf dem hinteren Umschlag des Bändchens. Ein hübscher Einfall. Und eine knappe, höchst präzise Würdigung der Karteninhalte.
Das Vergnügen des Austauschens
Was im Einzelnen die jahrelange Freundschaft begründete, lesen wir nicht. Es muss sich aus gegenseitiger Wertschätzung und im Schutz der Vertrautheit auf Distanz um das Vergnügen gehandelt haben, sich Gedanken, alltägliche Erfahrungen und Beobachtungen, manchmal Weisheiten und Ermahnungen bei aller Ernsthaftigkeit leichthin zuzuwerfen.
Steiner formuliert liebevoll auf die Adressatin bezogen. Es sind Mitteilungen aus dem eigenen, kritisch beobachteten und reflektierten Alltag. Um Lesungen, um mit seiner Frau Silvia geplante Reisen und Reiseeindrücke geht es, disziplinierten Klatsch, Vorkommnisse in Biel, Balkonpflanzen, Jahreszeiten, Bücher und gesundheitliche Sorgen. Er führt mit Hanne Kulessa Gespräche, die von einem Thema zum anderen springen, mal etwas verweilend, mal bloss antippend.
Was Steiner in seiner ersten Karte hoffte, erfüllte sich: "dass wir uns nicht aus den Augen verlieren, schon gar nicht aus den Herzen."
Autobiographische Karte
Natürlich möchte der jetzt von aussen eingeladene Mitleser die Texte Hanne Kulessas kennen und wissen, wer wann auf wen reagierte und wozu animierte. Andeutungen helfen ein bisschen. Auf weitesten Strecken läuft die Erlaubnis zum Spekulieren mit. Der Reim eines jeden Lesers wird ein anderer sein. Das ist ein Risiko. Der Mut ist dem Bändchen immanent.
Auch mit dem Anspruch aufs literarische Gewicht der publizierten Texte. Der Untertitel des von Urs Stuber mit eleganter Schlichtheit gestalteten Bändchens unterstreicht ihn: "Im Sessel von Robert Walser".
Die Karten weisen Steiner als Meister der kompakten Form aus, der Lakonik und der minimalistischen Ökonomie. Die Sprache sitzt. Die Summe der Karten fügt sich zu einer autobiographischen Karte. Sie signalisiert Sackgassen und Umwege und erleichtert die Annäherung an Jörg Steiner. Lesen und Entdecken sind eine Freude.
Jörg Steiner: Im Sessel von Robert Walser. Kartenpost, hrsg. von Hanne Kulessa, Limmat Verlag, Zürich 2015, 140 Seiten, ISBN 978-3-85791-762-2