„Ein Original“, so hiess vor langer Zeit der schlichte Titel eines Aufsatzes. Damals ein Original zu finden war leicht, es genau zu beschreiben aber schwer. Ja, wann ist jemand ein Original? Eine grosse Frage für einen kleinen Schüler. „Mein Original“, so schrieb ich ins Aufsatzheft, „lebt anders, vielleicht sogar frei von Zwängen – und zeigt mir dadurch Anderes. So regt mich diese Person zum Denken an, indem sie mir Lebensweisen aufzeigt und Welten eröffnet, die ich nicht kenne“.
Die gute Lehrperson wirkt als Fremdenführerin
Liegt nicht genau darin die Aufgabe einer Lehrperson? Junge Menschen aus ihren Eigenwelten herausholen und sie in neue Welten führen, zu (Bildungs-)Horizonten, die ihnen unbekannt sind – trotz Internet und immenser Sekundärmaschinen, trotz elektronischer Informationsquellen mit ihren Daten, den Abertausenden, Hunderttausenden?
Nicht umsonst spricht der Hannoveraner Pädagoge Thomas Ziehe davon, dass die Rolle des heutigen Lehrers auch den Part des Fremdenführers beinhalte: Jugendliche in neue und unbekannte Sinngebiete führen – und sie so zu einem Original heranreifen lassen, zu einem freien Selbst. Das geht nur, wenn die Lehrerin ihnen dabei Verstehens-Korridore in diese Kontinente eröffnet, gemeinsam Grenzübergange meistert und Erfahrungen des anfänglichen Nichtverstehens abfedert. [1] Das sind beispielsweise Welten der Mathematik, der Geschichtsschreibung oder der Ästhetik. Wer lernt, den Raum fiktionaler Literatur zu betreten, erlebt die Welt aus der Perspektive einer anderen Person.
Zugänge zu andern Welten
In der heutigen Didaktik dominiert das Selberlernen. Doch wie können sich Kinder für Dinge begeistern, die sie gar nicht kennen, weil sie ihre Neigung nie dorthin führen würden? Die Aufgabe von Schule und Unterricht liegt eben auch darin, die Welt des Alltags zu relativieren, die Jugendlichen über ihren Eigenhorizont hinauszuführen und sie für andere Lesarten der Wirklichkeit zu befähigen. Dafür braucht es „Reiseleiter“, leidenschaftliche und angefressene. Typen, Talente, Temperamente. Eine Art Original – allerdings nicht im Sinne der alten, rigiden Paukerschule oder à la Figuren wie in Heinrich Manns Roman „Professor Unrat“ oder in Frank Wedekinds Drama „Frühlings Erwachen“.
Ganz im Gegenteil! Es braucht prägende pädagogische Persönlichkeiten, wie wir sie vermutlich alle aus der eigenen Schulzeit kennen. „Ein positives [Original] war Pater Kassian. […] Er verstand es, sogar mich für physikalische Vorgänge und Formeln zu begeistern. Er war ein exzellenter Lehrer, weil er uns mit seiner Leidenschaft ansteckte“, schreibt Thomas Hürlimann über seinen Einsiedler Physiklehrer. [2] Er baute ihm die Brücke zu den Naturwissenschaften.
Vom Wert der klassischen Pygmalionthese
Ein solcher Fremdenführer war auch der Phonetiker Higgins im Musical „My Fair Lady“, verfilmt mit Audrey Hepburn und Rex Harrison. Mit Hilfe des Philologie-Professors erobert das Blumenmädchen Eliza Doolittle eine neue Welt. Sie verlässt ihr Selbst und taucht in sprachliche Sphären ein, die ihr vorher verschlossen waren. Eine solche „Reise“ in neue, fremde Welten birgt in sich die Chance für einen anderen Weltbezug.
Dazu gehört ein menschliches Gegenüber, das unentwegt an den andern glaubt und ihm vertraut. „Pygmalion“, so nannte George Bernard Shaw seine Komödie; sie diente dem Musical als Vorlage. Higgins glaubte an Eliza und traute ihr das blütenreine Oberklassen-Englisch zu. Das Blumenmädchen schaffte es und bestand beim Ball des Botschafters als angebliche Herzogin.
Entscheidend ist die Haltung
In der Pädagogik spricht man ebenfalls vom Pygmalion-Effekt. Und in der Regel wirken pädagogische Originale wie Higgins im Sinne dieser Effektstärke. Sie ist einer der bestuntersuchten Wirkfaktoren. Auch John Hatties umfangreiche Studie ordnet der Lehrererwartung einen positiven Wert zu. Prof. Winfried Kronig, Universität Freiburg i. Üe., konnte nachweisen, dass die Erwartungshaltung der Lehrperson aus der zweiten Klasse die Leistung in der 6. Klasse immer noch beeinflusst – dies über eine Zeitachse von vier Schuljahren.
Das Vorbild wirkt
Millionen und Abermillionen fliessen heute in die Digitalisierung des Unterrichts. Aus der Erfahrung wissen wir, dass mächtige Ideologien, grosse organisatorische Reformen und immer neue Technologien die Welt zwar dramatisch verändern. Ob sie dadurch für die Menschen aber besser wird, das hängt vor allem – und speziell in der Welt der Schule – vom Wirken einzelner Personen ab. Allzu leicht geht das heute vergessen – in der Fülle der Vorschriften und im Dunst des technokratischen Zeitgeistes.
In seinem heiter-klugen Essay „Die pädagogische Provinz“ ruft Thomas Hürlimann den Lehrerinnen und Lehrern – und damit auch den Bildungspolitikern – in Erinnerung, dass Unterrichten und Erziehen eben viel mit Vorbild zu tun hätten. „Lernen ist nachäffen“, meint er zwar etwas salopp. Doch genau dieses pädagogische Vorbild der Erwachsenen betonte auch der Zürcher Neuropsychologe Lutz Jäncke kürzlich an einem Vortrag. [3]
Über das Original zu einem freien Selbst
Durch was lassen sich junge Menschen „am einfachsten in eine Origo verwandeln?“ Und wie werden sie ein freies Selbst?, fragt Hürlimann. Seine Antwort: „Durch ein Original.“ Und er fügt – ohne Fragezeichen – bei: „Durch was denn sonst.“ Dem ist nichts beizufügen.
[1] Thomas ZieheDie Eigenwelten der Jugendlichen und die Anerkennungskrise der Schule. In: Detlev Horster/Jürgen Oelkers (Hrsg.) Pädagogik und Ethik. Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2005, S. 288
[2] Thomas Hürlimann: Die pädagogische Provinz. In: Ders.: Der Sprung in den Papierkorb. Geschichten, Gedanken und Notizen am Rand. Ammann Verlag, Zürich 2008, S. 109
[3] Lutz Jäncke: „Vom Hirn zum Lernen“. Vortrag an der Universität Zürich im Rahmen „50 Jahre Klett und Balmer Verlag“. 8.11.2017