Ein Jahr vor der Franzosenzeit, im Oktober 1797, reiste der Dichterfürst Johann Wolfgang von Goethe (1746–1832) durch die Urschweiz – „bei günstigstem Wetter“ und buchstäblich mit dem Stifte in der Hand. Alles, was ihm ein- und aufgefallen ist, hat er notiert und protokolliert, registriert und rubriziert: Ungewohntes und Aussergewöhnliches, Hintergründiges und Vordergründiges, Raritäten und Banalitäten. Alles im späteren Telegrammstil. Entstanden ist ein spannender Bericht. Er zeigt uns, wie radikal sich die Landschaft verändert hat.
Nur die ergangenen Gedanken haben Wert
Goethe war zu Fuss unterwegs. Er hat die Schweiz auf seinen drei Reisen wortwörtlich „ergangen“. Seine Gedanken sind darum Ge(h)danken. Nicht umsonst meinte der Philosoph Friedrich Nietzsche: „Trau keinem Gedanken, den du nicht im Freien ergangen hast.“ Auch er ist stundenlang gewandert. Viele seiner Ideen sind ihm beim Gehen am Engadiner Silsersee gekommen. Und Nietzsche fügte bei: „Alle Vorurteile kommen aus den Eingeweiden. Das Sitzfleisch ist die eigentliche Sünde wider den heiligen Geist.“ Eben: Es ginge wohl vieles besser, wenn man mehr ginge.
Die Schweiz als philhelvetisches Reiseziel deutscher Dichter
Viel „gegangen“ ist man auch im 18. Jahrhundert. Es war die Zeit des deutschen Philhelvetismus, der „Schweizbegeisterung“. Eine Reise ins südliche Land gehörte damals für viele Deutsche zum guten Ton wie bis vor Kurzem ein Flug auf die Seychellen oder in die Karibik. Die eigentliche Wallfahrt aus dem Norden in „das heilige Land der Freiheit und der grossen Natur“ begann um 1750. Kaum ein Poet von Wert und Rang, der die obligate Schweizerreise versäumt hätte. Fast wie von geheimer Stimme gerufen kamen sie alle, die deutschen Dichter und Denker des 18. und frühen 19. Jahrhunderts.
Auslöser waren Jean-Jaques Rousseaus Schriften (1712–1778). Mit seinem Ruf „Retour à la nature!“ und dem hehren Loblied auf den edlen Wilden („Le bon sauvage“) und das naturbelassene Kind traf er wie kein Zweiter den damaligen Zeitgeist. Er artikulierte ein neues Lebensgefühl; damit wurde er zum Inspirator der Französischen Revolution und der Romantik. Fast vollzählig pilgerten darum im Zeitalter des Sturms und Drangs die jungen Revolutionäre ins Land der Eidgenossen; hier liessen sie ihrem Rousseau’schen Natur- und Freiheitsenthusiasmus freien Lauf. Viele fühlten wie der junge Goethe: „Mir ist wohl, dass ich ein Land kenne, wie die Schweiz ist; nun geh’ mir’s, wie’s wolle, hab’ ich doch immer da einen Zufluchtsort.“ So schrieb er am Ende seiner ersten Schweizerreise 1775. Der Dichter trug – wie könnte es anders sein – die bekannte Werthertracht: blauen Frack, gelbe Weste, Kniehose aus gelbem Leder, Stulpenstiefel, dazu den runden grauen Filzhut.
Goethes dritte Schweizerreise – Der Gotthard zum Dritten
1797 reiste Goethe ein drittes Mal in die Schweiz; in der Zwischenzeit ist er „ein anderer Mensch geworden“, wie er Friedrich Schiller schrieb. Als Gelehrter und Forscher musste er beobachten, sammeln und „seine Erfahrungen […] rektifizieren“. Dabei ahnte er wohl den Sturz der staatlichen Ordnung von 1798. Am Vorabend des Untergangs der alten Eidgenossenschaft wollte er nochmals „die kleinen Kantone“ um den Vierwaldstättersee sehen. Erneut führte ihn der Weg durch die steinig raue Welt hinauf zum „Vater Gotthard“, zu diesem „helvetischen Sinai“, wie der Schriftsteller Peter von Matt den Pass bezeichnet.
Ein Tell-Epos im Kopf
Und wieder durchquerte Goethe die schaurige Schöllenenschlucht. Mit ihren grauen Granitwänden erschien sie ihm „allmächtig schröcklich [und] öde wie im Tal des Todes – mit Gebeinen besät“. Durchs Reusstal erreichte er die Wilhelm Tell-Gegend. Von Altdorf ging es am 6. Oktober 1797 „zeitig ab“ nach Flüelen. Um 9 Uhr fuhr das Marktschiff weg, vorwärtsbewegt von Ruderern. Goethe und seine beiden Begleiter sassen zwischen den Einheimischen, gepackt vom Anblick der Landschaft: „Alles Menschenwerk wie auch alle Vegetation erscheint klein gegen die ungeheuren Felsmassen und Höhe.“ Die Tellskapelle lag im Schatten. Von Ferne leuchteten die Schwyzer Mythenberge.
Dann „kamen [sie] am Rütli vorbei“ und an „Türmen“. Gemeint war wohl der Naturobelisk, der Mythenstein und seit 1859 Schillerstein. Wäre Goethe hier nicht vorbeigefahren, den Stoff zum Tell-Epos bereits im Kopf, und hätte er seinem Dichterfreund Friedrich Schiller nicht die Unterlagen zum Drama überlassen, der Stein wäre nichts als der Mythenstein geblieben.
Durch eine „poetische Landschaft“
Dreieinhalb Stunden dauerte die Nauenfahrt bis Beckenried, ein Hingleiten in „poetischer Landschaft“. Goethe fand die Fahrt „mannigfaltig, gross und interessant“. Von Weitem schon sah er das Fischerdörfchen „Beckenried am fruchtbaren Abhange eines Berges liegen, dessen steiler Gipfel nach und nach sanft bis in die Mitte des Bildes abläuft“.
Goethes Reisebericht gleicht einer Filmreportage. „Wir langten um halb ein Uhr an“, schrieb er, „und gingen den Fusspfad nach Stans.“ Und weiter: „Es ist der angenehmste Weg, den man sich denken kann.“ Ein Lob für Nidwalden, wenn man weiss, wie unerbittlich Goethe urteilte. Der Feldweg „geht unmittelbar am See hin und steigt sanft in die Höhe durch grüne Matten, hohe Nuss- und andere Fruchtbäume und reinliche Häuser, die an dem sanften Abhang liegen“. Die schöne Aussicht, der wunderbare Ausblick zum See, dann hinüber an die Rigi-Hänge und zum „Freystaat Gersau“. Von Buochs führte ein „schön gepflasterter Weg über eine Höhe, zwischen Matten, auf welchen Kühe schwelgten. […] Man kommt durch ein schmales Tal auf die schöne, völlig ebene Fläche, worauf Stans, nicht zu nahe von hohen Bergen umgeben, liegt“. So erlebte der Geher Goethe den Weg in den Kantonshauptort – vorbei am ehemaligen Nidwaldner Landsgemeindeplatz.
Im Anblick des alten Winkelried
In Stans „traten [wir] im Gasthof zur Krone ein, welcher der Kirche gegenüber auf einem hübschen Platze liegt“. Die Absteige gibt’s nicht mehr; übriggeblieben ist eine imposante kaiserliche Krone. Ebenerdig befanden sich zu Goethes Zeiten wohl Stallungen. Natürlich nickte der deutsche Gast dem „guten alten Winkelried“ von 1386 zu: „In der Mitte steht ein Brunnen, auf dem der alte Winkelried mit den Speeren im Arm gestellt ist.“ Die Skulptur mit dem Helden von Sempach schmückt seit 1724 den Stanser Dorfplatz, heute allerdings als frisch restaurierte Kopie.
Am nächsten Tag zogen Goethe und seine zwei Begleiter weiter nach Stansstad zum kleinen Hafen im winzigen Fischerdorf: „Früh Nebel; doch der Schein der Morgensonne hie und da auf den Berggipfeln. Gegen 8 Uhr ab. Flache Matten zwischen den Bergen. […] Gegen Stansstad wird es sumpfiger.“
Unbekanntes im Altgewohnten finden
Wie heutige Touristen genoss Goethe die Landschaft: „Am Landungssteg [beim mittelalterlichen Schnitzturm] selbst ist ringsherum die Ansicht gar angenehm wegen den mannigfaltigen Bergen, Buchten und Armen." Aufgefallen sind ihm die Mädchen. Sie „haben auf den kleinen Strohhüten vier Schleifen, wechselseitig rot und grün“. Im Reporterstil notierte Goethe: „Wir fuhren ab, es war etwas neblig.“ Und vom Nauen aus blickte er nochmals zurück ins Nidwaldische: „Südwärts sieht man nun den berühmten Warttum von Stansstad, den kleinen Ort auf seiner Fläche, umgeben von den mannigfaltigsten Gebirgen und Vorgebirgen, hinter denen südwestwärts der Pilatus hervorsieht.“ Über Küssnacht und Zug ging die rund zehntätige „Fuss- und Schiffsreise“ durch die Urkantone in Zürich zu Ende.
Bis in die Sechzigerjahre hinein war die Gegend zwischen Beckenried und Stans noch geschlossen bäuerlich – mit gelockert gestreuten Höfen, Nussbaumalleen und weissen Kapellen. Ähnlich hat Goethe diese Landschaft erlebt. Im wirtschaftlichen Boom der Nachkriegszeit ist sie untergegangen. Goethes Ge(h)danken erinnern – ganz unsentimental – an diese Welt. Sie lassen das Damalige im Heutigen entdecken und dabei Unbekanntes im Altgewohnten finden.