Trainspotting vor über sechzig Jahren als 15-Jähriger: Die Publikation eines Bandes mit Eisenbahnbildern des Industriearchäologen Hans-Peter Bärtschi gibt Anlass, in der eigenen, fast vergessenen Fotosammlung nach Erinnerungen zu graben.
Vor kurzem hat die ETH-Bibliothek die Digitalisierung des 240’000 Bilder umfassenden Nachlasses von Hans-Peter Bärtschi abgeschlossen. Die Einladung zur Vernissage zeigt ein Industriegelände, wie es bis in die 1960er Jahre in der Schweiz noch allgegenwärtig war: im Hintergrund ein backsteinernes Fabrikgebäude, an dessen Fassade die Träger eines Portalkrans entlangführen, die Laufkatze gerade noch sichtbar, im Vordergrund sich verzweigende Gleise, welche entlang des Gebäudes und in die Fabrikhalle führen. Je länger man das Bild betrachtet, desto stärker zieht es einen in die Geschichte hinein. Man möchte wissen, was auf diesem Gelände gemacht worden ist und wie die Leute, welche hier tätig waren, gelebt und was sie gedacht haben.
Einer, den es schon mit fünfzehn Jahren in solche Bilder hineingezogen hat, war Hans-Peter Bärtschi (1950–2022). Er gilt als Vater der Schweizer Industriearchäologie. Ab 1965 war er mit seinem Fotoapparat unterwegs. Anfangs interessierte ihn vor allem der Schienenverkehr in all seinen Erscheinungsformen. Von der grossen SBB über schmalspurige Gebirgsbahnen wie die Rhätische Bahn, unscheinbare Nebenbahnen – zum Teil noch mit Dampf betrieben – bis zu den Strassenbahnen fotografierte er alles, was ihm vor die Linse kam: Lokomotiven, Wagen, Bahnhöfe, Gleisanlagen.
Im Unterschied zu den oft künstlich wirkenden Werkaufnahmen der im Eisenbahnbau tätigen Firmen dokumentierte Bärtschi den Alltag und die Menschen, Angestellte und Reisende. Er wollte festhalten, vor allem das, was zu verschwinden drohte. Deutlich spürt man, dass Bärtschis Liebe dem Gefährdeten galt, den alten dampfbetriebenen und elektrischen Lokomotiven, den von Stilllegung bedrohten oder bereits stillgelegten Bahnstrecken, den alten Bahnhof- und Depotgebäuden mit ihren auf Stumpengleisen «vergessenen» Personen- und Güterwagen oder den einst gefeierten Luxuszügen.
Später weitete Bärtschi sein Interesse auf andere Zeugnisse der Industrialisierung aus, welche der Homo Faber im Laufe der letzten 200 Jahre hinterlassen hat: Industrieanlagen im In- und Ausland, Brücken jeglicher Spannweite und Höhe, aus Stein, Holz oder Stahl, Tunnels, Strassenbauten, künstliche Wasserwege, Schiffe und Lastwagen.
Am 27. November 2023 wurde an der ETH der Bildband von Thomas Eichenberger «Eisenbahnbilder – Eisenbahnbild. Schweizer Eisenbahnen im Fotoarchiv von Hans-Peter Bärtschi und der Stiftung Industriekultur» vorgestellt. Der Anlass galt gleichzeitig dem Abschluss der Digitalisierung der rund 250’000 Bilder aus dem Nachlass von Hans-Peter Bärtschi durch die ETH-Bibliothek. Das Fotoarchiv Industriekultur ist nun vollständig online zugänglich; es verfügt über eine Suchoption, mit der man anhand von Stichworten bestimmte Motive finden kann.
Eichenberger hat sich in seinem Buch bewusst auf Bärtschis Eisenbahnbilder beschränkt. Die Aufnahmen sind nicht unbedingt ästhetisch, die Bildausschnitte oft suboptimal, viele Fotos haben den Charakter eines Schnappschusses. Weil es so viel Interessantes gab, stand in jener Zeit ein Fotograf ständig vor der Qual der Wahl – vor allem wenn ihm nicht ein unbeschränktes Budget zur Verfügung stand. Filme waren nicht billig, die Entwicklung des Filmes und die Abzüge teuer, es sei denn, man stellte die Filme selber her und verfügte, wie Bärtschi, über ein eigenes Fotolabor. Dennoch musste man – anders als heute, wo digitale Bilder zuhauf geknipst und wieder gelöscht werden können – genau überlegen, in welchem Moment man bei einem vorbeifahrenden Zug abdrücken sollte. Man nahm später wohl oder übel auch nicht ganz gelungene Aufnahmen in die Fotosammlung auf. Das sieht man Bärtschis Bildern an, aber das macht sie gleichzeitig so wertvoll.
Als ich Eichenbergers Buch erstmals in den Händen hielt, erinnerte ich mich lebhaft daran, dass auch ich – etwa im selben Alter wie Bärtschi, aber sieben Jahre vor seiner Zeit, d. h. ab 1958 – einst ein «Hereingezogener» gewesen bin. Sobald ich meine erste Kamera geschenkt bekommen hatte, ging ich auf die Pirsch, zuerst nur in der Umgebung meines damaligen Wohnortes Basel, später in der ganzen Schweiz. Meine Filme boten nur gerade für 12 Bilder Platz (quadratisches Format, 6 x 6 cm). Auch ich war, wie Bärtschi in den Anfangszeiten, vor allem mit dem Velo unterwegs, was man den Standorten der Bilder leicht ansieht. Auch ich dachte offenbar von Anfang an gross: Ich begann mit einer Kartothek, die nach Motiven und Bahngesellschaften geordnet war. Jedes Bild bekam eine eigene, mit einem Nummerncode versehene Karteikarte. Aber im Gegensatz zu Bärtschi blieb ich meinem Hobby nur wenige Jahre wirklich treu; später trat das Studium in den Vordergrund, die Politik, der Umweltschutz, die Liebe.
Der Anlass an der ETH war Motivation genug, die eigene Kartei hervorzuholen und daraus ein paar Bilder zu kopieren, zwar technisch nicht so perfekt wie es die ETH-Bibliothek mit Bärtschis Fotos getan hat, sondern lediglich als Scan der Abzüge, was natürlich die Bildqualität begrenzt. Drücken Sie also, liebe Leserin, lieber Leser, für einmal ein Auge zu.
Meine ersten Bilder entstanden 1958 in Basel und Umgebung, so der Schnappschuss hinter der Drehscheibe des damaligen Depots Basel SBB, von der Münchensteiner Brücke aus fotografiert. Neben dem Depot, an der Nauenstrasse, befand sich damals ein SBB-Verwaltungsgebäude, in dem der Gymnasiast im Sommer 1960 während zwei Wochen im Rahmen eines Aushilfejobs für die gesamte Materialverwaltung des Depots verantwortlich war. Zum Dank durfte ich am letzten Arbeitstag im Führerstand diverser Lokomotiven eine Rundreise von Basel via Zürich und Luzern zurück nach Basel machen und zum krönenden Abschluss selber eine Ae 4/7 aus dem Depot auf die Drehscheibe und zurück fahren.
In jener Zeit war ich an schulfreien Nachmittagen oft mit dem Velo unterwegs, um Züge auf der Strecke zu fotografieren, so die Gotthard-Lokomotiven Ae 6/6, wegen ihrer Verzierung an der Front auch Flügel-Loki genannt. Die moderne Lokomotive fuhr vielenorts noch an alten Semaphor-Signalen vorbei oder traf auf eine Dampflokomotive E 4/4. Man beachte: Die Strecke von Muttenz in den Auhafen führte an einem Getreidefeld vorbei.
Im Sommer 1959 besuchte ich mit dem Velo die noch mit Dampf betriebene Strecke Oberglatt–Niederwenigen (heute verkehrt dort die S15) und die stillgelegte Bülach-Baden-Bahn. Letztere war auch bei Bärtschi ein beliebtes Fotosujet. Die Bahnstrecke ist das Produkt eines erbitterten Konkurrenzkampfes zwischen der ehemaligen Schweizerischen Nordostbahn (NOB) und der Schweizerischen Nationalbahn (SNB). Damals bestimmte das Eisenbahngesetz, dass der Güterverkehr immer auf der kürzesten Strecke abzuwickeln sei. Mit dem Bau der Strecke Winterthur–Kloten–Regensdorf–Wettingen drohte die SNB der NOB den Verkehr zwischen Schaffhausen und Baden über die längere Strecke via Zürich wegzunehmen. Daher nahm die NOB ihrerseits 1877 – noch vor der Inbetriebnahme der SNB-Strecke – die um 2,7 km kürzere Strecke Niederglatt–Otelfingen–Wettingen in Betrieb, was schliesslich, zusammen mit anderen Faktoren, die SNB in den Konkurs trieb. Die SBB legten die verkehrsgeografisch unsinnige Bülach-Baden-Bahn, welche in Anlehnung an den Schipkapass in Bulgarien scherzhaft Schipkapass-Bahn genannt wurde, im Jahr 1937 still. Gewisse Gleisabschnitte überlebten aber bis heute.
Auf der gleichen Velotour von Basel Richtung Osten besuchte ich auch Freunde in Ossingen ZH an der Strecke Winterthur–Etzwilen und beobachtete bei dieser Gelegenheit einen Güterzug beim Rangieren. Solche Züge, welche oft stundenlang unterwegs waren und an jeder Station Wagen ab- oder anhängten, gibt es schon lange nicht mehr.
Und schliesslich – wie es sich am Ende des Jahres gehört – ein wörtlich gemeinter Blick zurück. Das letzte Bild wurde aus dem hintersten Wagen des Schnellzuges Chur–Zürich aufgenommen, nur wenige Wochen vor der Inbetriebnahme des neuen doppelspurigen, 3955 Meter langen Kerenzerbergtunnels. Auf dem frei gewordenen Trassee baute man danach die zweispurige Walenseestrasse, welche für den Strassenverkehr den mühsamen Umweg über den Kerenzerberg obsolet machte. Nach Inbetriebnahme des Kerenzerberg-Autotunnels wurde die Walenseestrasse 1968 dann zur nach Zürich führenden Fahrspur der A3. Eine gewaltige verkehrstechnische Entwicklung in rund dreissig Jahren: Von einer einspurigen Bahnlinie zu einer zweispurigen Bahn und einer vierspurigen Autobahn.
Jetzt bleibt mir nur noch, in Gedanken mein altes stabiles, aber schweres englisches Raleigh-Velo zu wenden und nach Hause zu fahren.