Klöster seien die letzten Oasen der Stille im lauten Getriebe unserer Zeit, heisst es. Fast mit Händen zu greifen ist diese Ruhe im alten karolingischen Klösterlein St. Peter zu Mistail bei Tiefencastel. Ein Besuch in diesem einsamen kunsthistorischen Kleinod.
Der Kontrast könnte nicht grösser sein: Wenige Meter nach der vielbefahrenen, lauten Kantonsstrasse von Thusis nach Tiefencastel tauchen wir in eine wohltuende Stille. Schnell löst sich der Lärmbrei auf. Vom kleinen Hotel Mistail bei Alvaschein an dieser Julierroute führt ein schattiger Waldweg sanft hinunter auf eine Sonnterrasse über der Albulaschlucht. Plötzlich taucht vor uns das berühmte karolingische Dreiapsidenkirchlein auf; abgeschieden liegt es auf dem kleinen Felsplateau. Zu entdecken sind noch zwei kleine Bauernhöfe, beide von Pflanzen umrankt. Fast etwas Arkadisches kommt uns in dieser Waldeinsamkeit entgegen, vielleicht sogar etwas märchenhaft Verwunschenes.
Mistail – ursprünglich ein Waldklösterlein
Der Name dieses verträumten Kleinods Son Peder Mistail verrät das Ursprüngliche: Das Wort Mistail ist die rätoromanische Mundartform für «Monasterium» oder Kloster. Der Name ist das Einzige, was noch an den ehemaligen Konvent erinnert. Das Frauenkloster St. Peter muss, so die Annahme, in der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts gegründet worden sein, kurz vor der Zeit Karls des Grossen. 926 taucht der Name erstmals in den Urkunden auf – als «Monasterium Wapitines».
Doch bereits 1154 wird das kleine Waldkloster wieder aufgehoben. Der Ort sei ungeeignet, heisst es in den Urkunden. Von der alten Konventanlage ist nichts mehr sichtbar, auch von den Klostermauern nicht. Das Kirchlein St. Peter aber scheint in seiner abgelegenen Einsamkeit die Jahrhunderte verträumt zu haben. Wie anders ist es zu erklären, dass die drei wuchtigen Blockaltäre in den Apsiden zur ursprünglichen karolingischen Klosterkirche gehören? Weit über 1’200 Jahre alt müssen sie sein!
Fresken aus drei Epochen
Noch etwas macht dieses Gotteshaus so einzigartig: Die Kirche St. Peter Mistail ist der einzige unverbaute karolingische Dreiapsiden-Saal unseres Landes. Dieser Bautypus entwickelte sich aus den frühen christlichen Oratorien mit halbrundem Chorabschluss.[1] Die ursprüngliche Anlage war turmlos. Der schlichtschöne Campanile entstand erst am Ende des 14. Jahrhunderts.[2]
Das Innere dieses frühmittelalterlichen Bauwerks birgt Malereien aus drei Epochen. Das ganze Kirchlein muss kurz nach dem Bau in Freskotechnik ausgemalt worden sein. Davon gehen Kunsthistoriker aus. Reste dieser karolingischen Bilder von etwa 800 sind noch vereinzelt zu erkennen. Um 1400 erfolgten die heute so gut sichtbaren gotischen Malereien in der Mittelapsis. Es sind italienische Arbeiten, ebenso wie die Fresken an der nördlichen Schiffwand aus der Mitte des 15. Jahrhunderts.
Christophorus als Christusträger
Wer vor dieser eindrücklichen Mittelapsis steht, dem leuchtet wohl als Erstes das Apostelfries entgegen. Von den zwölf Aposteln ist nur Petrus sicher zu erkennen. Der Stellvertreter Jesu Christi und Kirchenpatron von Mistail trägt als sein Attribut den Petrusschlüssel. Darüber in der Wölbung thront Christus in der Mandorla, umgeben von Engeln mit den Symbolen der vier Evangelisten.[3] Die Nordwand zeigt ein beliebtes Volksmotiv in frühen Gotteshäusern: Christophorus als Christusträger. Staunend steht man vor diesem eindrücklichen Bild: der riesige, sieben Meter grosse Mann und das unscheinbare kleine Kind Christus.
Warum zieht es einen immer wieder an diesen geheimnisvollen Ort? Es ist wohl die tiefe Stille und die schlichte Schönheit dieses ehemaligen Waldklösterleins. Das Verweilen in diesem kunsthistorischen Kleinod in spürbarer Einsamkeit lässt die Gedanken schweifen – und sie schweifen weit zurück: Vor mehr als 1'200 Jahren haben Menschen dieses abgeschiedene Gotteshaus gebaut – mit Disziplin und Demut und im Glauben, einer höheren Ordnung anzugehören.
[1] Ambros Sonder (1984) (Hrsg.), Kirchen und Kapellen an der Julierroute. Chur: Calanda Verlag, S. 17ff.
[2] Willy Zeller (1993), Kunst und Kultur in Graubünden. Illustrierter Führer. 3. Aufl. Bern: Haupt Verlag, S. 200; Klaus Speich/Hans R. Schläpfer (1978), Kirchen und Klöster in der Schweiz. Zürich Ex Libris Verlag, S. 55.
[3] Kirche und ehemaliges Frauenkloster St. Peter Mistail (2011). 6. erg. Auflage. Basel: Schweizerische Gesellschaft für Kunstgeschichte, S. 13ff.