Eher überraschend hat Kamala Harris Tim Walz, den Gouverneur des Staates Minnesota, zu ihrem Vizepräsidentschaftskandidaten erkoren. Der 60-Jährige soll ihr helfen, in den Swing States jene ländliche Wählerschaft zurückzugewinnen, die in den letzten US-Wahlen für Donald Trump gestimmt haben.
Es wäre eine Ironie der Geschichte, müssten sich Republikaner nach dem 5. November vorwerfen lassen, sie seien selber schuld am Erfolg der politischen Karriere von Tim Walz und seiner Rolle bei einer allenfalls siegreichen Präsidentenwahl von Kamala Harris. Tim Walz ist der erste demokratische Vizepräsidentschaftskandidat seit 1960, der nicht Jurist ist, sondern Lehrer und Football-Coach, bevor er 2004 in die Politik einstieg. Auch diente er 24 Jahre lang als Unteroffizier in der Nationalgarde, die neben dem Wehrdienst eine zivile Tätigkeit erlaubt. Es ist eine amerikanische Vita, wie Hollywood sie nicht schöner erfinden könnte. Kein Wunder, wird er als «Minnesotas bester Export-Artikel seit Scotch Tape» (ein Produkt der im Staat domizilierten Firma 3M) bezeichnet.
Moderater Demokrat
Vor dem Einstieg in die Politik hatte Tim Walz an einer öffentlichen High School in Mankato südlich von Minneapolis Sozialkunde und Geschichte unterrichtet. Als Lehrer begleitete er am Ort einige Schülerinnen und Schüler zu einer Wahlkampfveranstaltung von George W. Bush. Doch die Organisatoren des Events liessen die Gruppe nicht hinein, weil ein Schüler auf seinem Portemonnaie einen Sticker von «W.’s» demokratischem Gegner John F. Kerry kleben hatte. Walz war erzürnt und schloss sich am nächsten Tag als Freiwilliger dem Wahlkampfteam des Senators aus Massachusetts an. Zwar verlor Kerry die Präsidentenwahl, aber Walz entschloss sich, selbst für ein Amt zu kandidieren.
In einem ländlichen Wahlkreis, den die republikanische Partei in den vorangegangenen Jahren stets für sich beanspruch hatte, gelang es Tim Walz 2006, einen Sitz im US-Repräsentantenhaus zu gewinnen. In seinem Wahlkampfteam jobbten frühere Schülerinnen und Schüler von der High School in Mankato. In Washington DC diente Walz, der als moderater Demokrat galt, während sechs Amtszeiten, bevor er 2018 in Minnesota als Gouverneur kandierte und gewann. Vier Jahre später wurde er wiedergewählt.
Dass die Wahl von Kamala Harris auf Tim Walz fallen würde, war vor dem Wochenende nicht erwartet worden. Zwar gehörte er dem Trio der den Medien zufolge engsten Favoriten an, aber sowohl Gouverneur Josh Shapiro (Pennsylvania) und Senator Mark Kelly (Arizona) waren grössere Chancen eingeräumt worden, weil sie beide aus Swing States stammen, die am 5. November wahlentscheidend sein könnten – und wo Kamala Harris, ausser in Michigan, Wisconsin, Nevada und Georgia, gewinnen muss, will sie am 20. Januar 2025 ins Weisse Haus einziehen.
Starke Überzeugungen
Datenexperte Nate Silver schätzt, dass Kamala Harris in Pennsylvania mit Josh Shapiro an der Seite 0,4 Prozent mehr Stimmen geholt hätte. Andere Analysten sprechen von einem Plus von bis zu zwei Prozent. Joe Biden gewann den Staat 2020 mit einer Mehrheit von 1,2 Prozent. Laut dem «Economist», der verschiedene Umfragen auswertet, führt Harris derzeit erstmals seit Oktober 2023 landesweit mit 48 zu 45 Prozent der Stimmen vor Donald Trump. Wobei national zu gewinnen kein Erfolgsgarant ist, wie Al Gore 2004 und Hillary Clinton 2021 gezeigt haben. Entscheidend ist die Summe der Wahlleute in den Einzelstaaten.
Dagegen ist Minnesota fest in demokratischer Hand. Wobei Studien und Wahlanalysen zeigen, dass Vizepräsidentschaftskandidaten an der Urne selten einen grossen Unterschied ausmachen – nicht einmal in ihren Heimatstaaten. Eher sind es die Medien, die mit ihrer flächendeckenden Wahlkampfberichterstattung der Rolle und der Wichtigkeit eines «Veep» zu viel Gewicht beimessen – einem undankbaren Amt, das der Texaner John Nance Garner, 1933 bis 1941 Vizepräsident unter Ferdinand D. Roosevelt, einst als «nicht einen Kübel warmen Speichels wert» charakterisierte.
Was also hat Kamala Harris bewogen, sich für Tim Walz zu entscheiden? «Eine Sache, die mir bezüglich Tim auffiel, ist der Umstand, wie stark seine Überzeugungen sind, für Familien der Mittelklasse zu kämpfen», heisst es in ihrem Communiqué: «Er kooperierte mit Republikanern, um Investitionen in die Infrastruktur zu verabschieden. Er senkte die Steuern für arbeitende Familien. Er erliess ein Gesetz, das Familien in Minnesota Eltern- und Krankheitsurlaub beschert. Er machte Minnesota zum ersten Staat im Land, der ein Gesetz verabschiedet hat, das Abtreibungen verfassungsmässig schützt, nachdem das Oberste Gericht ‘Roe v. Wade’ umstiess, und als engagierter Jäger erliess er ein Gesetz, das bei Waffenkäufen eine umfassende Leumundsprüfung verlangt.»
Gemäss wiederholten Aussagen aus ihrem Umfeld war für Kamala Harris eine gute persönliche Chemie der wichtigste Faktor für ihre Wahl. «Ms Harris will jemanden zur Seite haben, zu dem sie rasch eine enge und auf Loyalität basierende Beziehung aufbauen kann –, was in ihrem Fall mit Präsident Biden nicht von Anfang an geklappt hat», schrieb die «New York Times» noch vor Bekanntgabe ihres Entscheids für Tim Walz.
«Weird»
Dass sich ein US-Präsident und sein Vize vertragen ist nicht selbstverständlich. Al Gore warf Bill Clinton 2000 vor, mit Skandalen seinem Wahlkampf geschadet zu haben. Dick Cheney war 2008 wütend, weil George W. Bush seinen Spezi Scooter Libby nicht begnadigen mochte. Barack Obama und Joe Biden gingen 2016 im Unfrieden auseinander, weil Obama Hillary Clinton als Präsidentschaftskandidaten favorisierte. Und Mike Pence missfiel es 2021 mächtig, dass Donald Trump am 6. Januar im US-Capitol eine Meute auf ihn hetzte.
Tim Walz, bis vor kurzem landesweit wenig bekannt, ist im Juli dank eines Interviews mit dem liberalen Fernsehsender MSNBC ins Rampenlicht der Öffentlichkeit getreten – ein Auftritt, der mitgeholfen hat, die demokratische Basis zu mobilisieren. «Das sind ‘weird’, d. h. komische Leute auf der anderen Seite», sagte der Gouverneur über die Republikaner: «Sie wollen euch Bücher wegnehmen, sie wollen in eurer Arztpraxis präsent sein … Sie sind schlecht für die Aussenpolitik, sie sind schlecht für die Umwelt, sie haben definitiv keinen Plan für eine Gesundheitsvorsorge und sie sprechen unablässig über die Mittelklasse … Wie ich gesagt habe, ein Räuberbaron als Immobilien-Guy sowie ein Wagniskapitalgeber versuchen uns zu sagen, dass sie verstehen, wer wir sind? Sie wissen nicht, wer wir sind.»
Trotzdem meint Walz, die gängige Praxis von Demokraten, Donald Trump als existenzielle Gefahr für Amerikas Demokratie zu bezeichnen, würde dem Ex-Präsidenten zu viel Ehre antun. Doch «weird» sei er mit Sicherheit. «Ich glaube zwar, dass all dies eine reale Möglichkeit ist, aber es schreibt ihm viel zu viel Macht zu», sagte er auf CNN, was die alarmistische Rhetorik betrifft: «Hört diesem Kerl zu. Er spricht über Hannibal Lecter (den Kannibalen aus dem Horror-Film ‘Das Schweigen der Lämmer’), schockierende Haie und was immer Verrücktes ihm gerade in den Sinn kommt.»
Währenddessen verloren die Republikaner keine Zeit, Tim Walz zu diskreditieren, obwohl sie bis vor kurzem noch mit Josh Shapiro als Vize-Kandidaten gerechnet hatten. Ihr Hauptargument: Eine «gefährlich liberale» Präsidentschaftskandidatin habe einen «gefährlich liberalen» Stellvertreter ausgewählt. «Noch schlimmer als die gefährlich liberale und kriminelle Kamala Harris», liess Donald Trumps Wahlkampfteam in einem Spendenaufruf verlauten. «Kamala Harris und Tim Walz: schwach, erfolglos, gefährlich liberal», hiess es in einem Communiqué der Partei. «Tim Walz wird die Hölle auf Erde entfachen», warnte Trump selbst. Ron DeSantis, Gouverneur von Florida, nannte das demokratische Kandidatenduo «das extremst linke» in der Geschichte Amerikas. Der republikanische Abgeordnete Tom Tiffany (Wisconsin) nannte Walz und Harris der wahrgewordenen «SOZIALISTISCHE Traum».
Anstand und Respekt
Die Republikaner dürften vor allem versuchen, Tim Walz’ liberale Politik als Gouverneur in Saint Paul zu attackieren, die dem progressiven Flügel der demokratischen Partei durchaus gefällt. Unter anderem hat er sich, obwohl Ex-Soldat und Fasanen- und Truthahn-Jäger, auf Bitten seiner 23-jährigen Tochter für schärfere Schusswaffengesetze eingesetzt, worauf ihn die nationale Waffenlobby NRA von Note 6 auf Note 1 herabstufte.
Er machte sich zudem für Gratisessen an Schulen und den Erlass von Studiengebühren für Jugendliche aus ärmeren Familien stark: «Was für ein Monster», antwortete Walz sarkastisch, als ihn CNN auf Angriffe von konservativer Seite auf seine progressive Politik ansprach: «Kids essen in der Schule und haben volle Mägen und Frauen entscheiden selbst, was ihre medizinische Betreuung betrifft.»
Schwieriger wird es für seine politischen Gegner wohl werden, ihn wegen seiner Herkunft aus eher bescheidenen Verhältnissen oder seiner Bodenständigkeit zu attackieren, was sich unter anderem so äussert, dass er, als Sohn einer Lehrerin und eines Armeeveteranen im 3’500-Seelen-Dorf West Point (Nebraska) aufgewachsen, im Umgang mit den ländlichen Wählerinnen und Wählern des Mittleren Westens den richtigen Ton findet.
Von seiner Wahl sind auch Barack und Michelle Obama überzeugt. «Doch Tims beste Eigenschaft ist seine Fähigkeit, wie ein menschliches Wesen zu sprechen und jedermann mit Anstand und Respekt zu behandeln –, was überhaupt nicht überrascht, wenn wir berücksichtigen, dass er 24 Jahre lang in der Nationalgarde gedient und an einer High School Sozialkunde unterrichtet und Football gecoacht hat, bevor er in den Kongress gewählt wurde.» Kamala Harris hat ihn denn an ersten gemeinsamen Wahlkampfauftritten als «Coach Walz» vorgestellt.
«Als Football-Coach sage ich: Wir sind wieder im Angriff», äussert sich Tim Walz in einem Video bezüglich des wachsenden Optimismus in der demokratischen Partei: «Vizepräsidentin Harris bringt die Energie zurück, stellt sicher, dass sie bereit sein wird, die Demokratie zu beschützen, und mobilisiert die Leute, indem sie sicherstellt, dass wir unsere Rechte auf Fortpflanzung schützen, uns für die Familien der Mittelklasse einzusetzen und etwas Freude in unsere Politik zurückkehrt – so geht hinaus, fühlt die Begeisterung und engagiert euch!»