Es irrt, wer glaubt, die republikanische Partei (GOP) habe mit dem Rausschmiss ihres Abgeordneten George Santos aus dem US-Abgeordnetenhaus zur Vernunft zurückgefunden. Der New Yorker ist für die GOP lediglich ein Bauernopfer, während sein grosses Vorbild Donald Trump parteiintern fast völlig unbehelligt bleibt.
Michelle Goldberg, eine Kolumnistin der «New York Times», bringt es ungeschminkt auf den Punkt: «Sollte der gesegnete Tag je kommen, an dem Donald Trump in ein Bundesgefängnis gesteckt wird, dann hat es nur einer seiner Anhänger verdient, die Zelle mit ihm zu teilen: George Santos.» Zwar hat sich das Repräsentantenhaus in Washington DC Ende vergangener Woche erst im dritten Anlauf dazu durchringen können, den seriellen Betrüger und Hochstapler aus der Kammer zu entfernen. Zu stark waren zuvor die Befürchtungen der republikanischen Fraktion gewesen, ihre hauchdünne Mehrheit im 435-köpfigen Haus von vier auf drei Sitze geschrumpft zu sehen.
Doch der 56-seitige Schlussbericht der angesehenen Ethikkommission des Gremiums war am Ende zu vernichtend, um den 35-Jährigen noch halten zu können, der sich, nach allem was man weiss, vor Trumps Wahl zum Präsidenten 2016 nicht gross für Politik interessiert hatte. Auch hatten es die Medien weitgehend versäumt, den Kandidaten aus Long Island vor dessen Wahl kritisch zu durchleuchten. Erst eine Recherche der «New York Times» nach der Wahl deckte im Dezember 2022 auf, dass George Santos seine ganze Lebensgeschichte und all seine Errungenschaften frei erfunden hatte.
Er hatte nie jene Universitäten besucht, wo er angeblich glänzende Abschlüsse gemacht hatte, war nie für hochkarätigen Firmen an der Wall Street tätig gewesen, wie er behauptete, seine Grosseltern waren nicht vor dem Holocaust nach Brasilien geflohen und seine Mutter hatte nicht an 9/11 in den Twin Towers in New York die Terrorattacke Al-Qaidas überlebt.
Santos war auch nicht so reich, wie er angab, sondern Ermittlern zufolge häufig bankrott und er missbrauchte Wahlkampfspenden für persönliche Zwecke wie Botox-Injektionen, den Kauf von Luxusgütern oder den Zugang zu einer Porno-Website. Niemand weiss, wo er wohnt oder ob er je verheiratet war. Ratschläge seiner Untergebenen im Abgeordnetenhaus, er solle sich als «Fabulierer» behandeln lassen, schlug er in den Wind.
Inzwischen ist George Santos vor Bundesgericht in 23 Anklagepunkten wegen unterschiedlicher Vergehen wie Finanzbetrug oder Fälschung von Unterlagen angeklagt. Er bestreitet alle Vorwürfe und ist noch nicht rechtskräftig verurteilt – ein Umstand, der Parteikollegen und auch einige Demokraten dazu veranlasste, nicht für seinen Rausschmiss zu stimmen. Der Entscheid, argumentieren sie, schaffe einen gefährlichen Präzedenzfall und öffne ähnlichen, allenfalls parteipolitisch motivierten Verfahren Tür und Tor.
Allein der Verdacht oder die Vermutung, Abgeordnete hätten etwas Illegales begangen oder sich unethisch verhalten, könnten künftig genügen, sie auszuschliessen. Doch das zu entscheiden, sei allein Sache der Wählerinnen und Wähler. «Ist es peinlich, dass Santos überhaupt gewählt worden ist?», fragt im Magazin «The Atlantic» Autor Adam Serwer: «Ja. Aber das ist die Demokratie. Manchmal macht die Wählerschaft Fehler.» Santos hatte bereits angekündigt, 2024 nicht mehr kandidieren zu wollen.
George Santos hat aus seiner Bewunderung für Donald Trump und sein MAGA-Imperium nie ein Hehl gemacht. Kein Wunder, dass ihm im Haus Marjorie Taylor Green (Georgia) und Laurent Boebert (Colorado) oder Matt Goetz (Florida) die Stange gehalten haben – alle drei Rechtsaussen und eingefleischte MAGA-Gläubige. Doch auch sie konnten George Santos nicht retten, auch wenn Greene seinen Ausschluss als «Schande» bezeichnete.
Dem Abgeordneten aus Long Island mangelte es am Ende an jenem vorbehaltlosen Rückhalt in der Partei, den Donald Trump nach wie vor geniesst – vier Gerichtsverfahren mit insgesamt 91 Anklagepunkten zum Trotz. Den Ex-Präsidenten kann die GOP, anders als George Santos, nicht einfach loswerden, um sich nicht mehr schämen zu müssen oder von der Wählerschaft in Sippenhaft genommen zu werden.
«Aber niemand verkörpert Trumps berühmtheitssüchtige skrupellose Leere so gut wie Santos», schreibt Michelle Goldberg: «Er ist der Erbe von Trumps sybaritischem Nihilismus, seiner hochkitschigen Absurdität und seiner unbezwingbaren Unverfrorenheit.» Das Brechen von Regeln, so Goldberg, sei der Schlüssel zu Trumps übergriffiger Anziehungskraft: «Es stellt ihn über jene strengen Regeln, die für weniger bedeutende Menschen gelten, und schafft gleichzeitig für seine Anhängerinnen und Anhänger ein permissives Umfeld, ihre eigenen Hemmungen abzulegen.»
Inzwischen hat George Santos angekündigt, er wolle sich weiterhin öffentlich betätigen und 2024 im Präsidentschaftswahlkampf engagieren: «Ich werde nicht ruhen, bis ich Donald Trump zurück im Weissen Haus sehe.» Trump könnte den seriellen Fabulierer und Lügner allenfalls als Pressesprecher beschäftigen. Nichts ist unmöglich.
Derweil ist auch die demokratische Partei in Washington DC vor Skandalen nicht gefeit. Strafverfolger des Bundes werfen Senator Bob Menendez (New Jersey) und dessen Frau Nadine in einer 39-seitigen Anklageschrift vor, sich in Form eines Luxuswagens, teuren Fitness-Geräten, Hypothekarzahlungen, Goldbarren und mehr als 500’000 Dollar in bar bestechen haben zu lassen.
Im Gegenzug dafür machte sich der Vorsitzende der aussenpolitischen Kommission des Senats für mehr Unterstützung Ägyptens durch die USA stark und erwies zusammen mit seiner Frau drei mitangeklagten Geschäftsleuten seines Heimatstaates allerlei Gefälligkeiten. Menendez selbst beteuert seine Unschuld und weniger als die Hälfte seiner Parteikollegen in der kleinen Kammer stehen noch zu ihm. Allein seinen einflussreichen Kommissionsvorsitz hat er bisher aufgegeben.
Wie bei George Santos argumentieren seine Verteidiger, unter ihnen Senatskollegen der republikanischen Partei, auch hier, Menendez möge ein Gauner sein, aber wie alle Angeklagten verdiene er seinen Tag vor Gericht. Eine Anklageschrift sei nichts weiter als das Eröffnungsplädoyer der Staatsanwaltschaft und nichts in einem solchen Dokument solle automatisch als wahr akzeptiert werden. Nur ein Gerichtsverfahren könne klären, ob sie ein Beweis für illegales Verhalten sind. Und hinter allem steckt auch politisches Kalkül: Demokraten wie Republikanern kann ein einzelner Sitzverlust im Kongress bei den Wahlen 2024 teuer zu stehen kommen.