Die Novartis Stiftung steht zwischen Staat und Unternehmen und vernetzt sich mit beiden. Sie ist „ausdrücklich unabhängig vom täglichen kommerziellen Business von Novartis“, pflegt „innovative Philanthropie für bessere Gesundheit“, und wendet in ihren Projekten die heutigen Methoden von Wissenschaft, Technologie und Industrie an. Ihre Tätigkeit fördert sicher weltweit das Image der Novartis, die Erkenntnisse und Erfahrungen des Einsatzes unter schwierigsten Bedingungen fliessen sicher ein in die Analysen des Mutterhauses.
Die Stiftung richtet sich an die, „die mit dem täglichen Kerngeschäft nicht erreicht würden.“2 Die kostenlose Verteilung von Lepra-Medikamenten gehört dazu. Aber auch der Aufbau einer Krankenversicherung in Mali, die Ausbildung von Pflegepersonal in Entwicklungsländern, mithilfe eines computerbasierten Lernprogramms, das die Stiftung zusammen mit der WHO entwickelt hat, oder die Betreuung von AIDS-Waisen (zusammen mit der Swiss Academy for Development SAD). Und nicht zuletzt die Mitwirkung beim beispielhaften „Millennium Villages Project“.
Global Villages – Modellprojekte von Entwicklungsarbeit
Beispielhaft sind die „Millennium Dörfer“, weil sie zeigen, dass es einen Weg gibt aus der grössten Armut, einen Übergang von der Hilfe zur Selbsthilfe. Gegründet hat die „Millennium Villages“ Jeffrey Sachs4, einer der einflussreichsten Ökonomen der Gegenwart. Und einer der umstrittenen: Als junger Harvard-Professor machte er sich einen Namen mit seiner Schock-Therapie für Bolivien und später für Polen und andere osteuropäische Länder auf dem Weg in die Marktwirtschaft. Der Erfolg hat seinen Weltruf als Ökonom begründet. Und die damit verbundenen soziale Schäden wie gesteigerte Arbeitslosigkeit haben ihm heftige Kritik eingetragen. Aber Jeffrey Sachs zeigte sich lernfähig.
Nach einem kurzen, gescheiterten Versuch in der Sowjetunion unter Jelzin begann er, den „Kontext“ von Wirtschaftspolitik zu analysieren: Geschichte und Struktur einer Gesellschaft, Geographie, Klima, Gesundheit, Bildung. Den ordo-liberalen amerikanischen Slogan „Trade, not Aid“ hält er heute genauso für überholt wie alle Experten beim Novartis-Symposium. Er betrachtet heute Entwicklungshilfe als zwingende Voraussetzung für die Überwindung von Armut, Krankheit und damit für eigenständige Entwicklung und den Zugang zum Markt. .
Aus der Armut auf den Markt
Das Projekt der „Millennium Villages“5 ist sozusagen das „Sachs-Modell für Hilfe zur Selbsthilfe“. Es erfasst mittlerweile 13 afrikanische Armuts-Regionen südlich der Sahara, insgesamt 400'000 Menschen. Es sind Regionen unterschiedlicher Grösse, von 5000 bis zu 50'000 Einwohnern, mit verstreuten Siedlungen ohne ausreichende Infrastruktur. „Mangel“ war ihr gemeinsamer Nenner: Wassermangel, mangelnde Verkehrswege, mangelnde Bildungseinrichtung, mangelnde Gesundheitsvorsorge, mangelnde Rohstoffe (Holz zum Beispiel) und mangelnde Produktivität. Aus dieser Armut gibt es keinen Ausstieg ohne Hilfe von aussen.
Sachs und seine Partner haben dafür Schlüsselaktivitäten definiert: - Bereitstellung von Düngemitteln und (Hybrid-)Saatgut und entsprechende Ausbildung der Bauern - Verteilung von Moskitonetzen, die mit Insektiziden behandelt sind - Aufbau von Schulen, Gesundheitszentren und Wasseranschlüssen Dem entsprechen in einer ersten Stufe die Ergebnisse: - Erhöhte Nahrungssicherheit - Reduktion von Malaria und anderen Krankheiten - Verbesserte Grundkompetenzen
Das Netz: Public-Private Partnership
Das Projekt ist auf drei bis fünf Jahre angelegt, damit die „Millennium Villages“ auf der Basis von Bildung, Gesundheit und gesteigerter Ressourcen sich stufenweise entwickeln einen nachhaltigen Überschuss produzieren können, um sich schliesslich mit den lokalen Märkten zu verbinden. Das ganze Programm basiert auf einem Budget von 150 US Dollar pro Person und Jahr. Die Novartis-Stiftung, die bereits bei einem Gesundheitszentrum in Tanzania engagiert ist, unterstützt im gleichen Land das „Millennium Village“ von Ilolangulu (Mbola) unter anderem mit Gesundheitsforschung und Malaria-Medikamenten.
Selbstverständlich gibt es Diskussion über die begrenzte Nachhaltigkeit von Hybridsaatgut. Es gibt auch Debatten über den Eingriff in die regionale Kultur; auch das „Millennium Village“-Projekt musste lernen, dass nicht alle nördlichen Vorstellungen von Gleichheit ohne Weiteres in die regionale Kultur einzupflanzen sind. Und es gibt Spannungen mit einer Nachbarschaft, die von dem Projekt (noch) nicht profitiert.
Aber es gibt auch Erfolg: In Iloangulu sind zwischen 2007 und 2009 die Maiserträge von 1,5 auf nahezu 5 Tonnen gestiegen, es wurden über 20'000 behandelte Moskitonetze verteilt, und über 7000 Schülerinnen und Schüler erhielten mit Schulspeisung und neuen Schulbüchern Zugang zu Bildung. Neue Mobiltechnologie verbindet dieses wie alle „Millennium Villages“ mit der Welt.
Hilfe und Zusammenarbeit für Entwicklung sind längst über das Stadium „gutmenschlicher Moral“ hinaus. Die Ziele sind messbar definiert. In diesem Fall: Halbierung der Armut im Zeitrahmen der Millennium Development Goals. Das Budget wird strikt eingehalten. Und das Projekt wird getragen von einer public-private Partnership: Vom Earth Institute der Columbia University, vom UNO Entwicklungsprogramm UNDP, von der „Millennium Promise“, einem Zusammenschluss zahlreicher Unternehmen, Stiftungen, Bildungseinrichtungen und von Privatpersonen, die zur Finanzierung der „Millennium Villages“ beitragen.
„Mind the gap“ – Entwicklung ist messbar
Die Schweiz liegt noch immer deutlich hinter den versprochenen 0.7 Prozent des Bruttosozialprodukts für die Entwicklungshilfe zurück. Sie erreicht noch nicht einmal den Durchschnitt der OECD-Länder: das wären 0.5 Prozent. Und sie hat noch immer die höchsten Barrieren für Einfuhren aus den Entwicklungsländern: im Leistungsvergleich der OECD-Staaten für die Entwicklung liegt sei beim Handel an letzter Stelle. Damit verfestigt die Schweiz die Kluft zwischen Arm und Reich, die eine wesentliche Ursache der Problem ein den Beziehungen zwischen Nord und Süd ist.
Aber der Abstand zwischen Arm und Reich wird so nicht bleiben. Wahr ist, dass die Schweiz mit einem Pro Kopf-Einkommen von 38'000 US Dollar (Kaufkraft-bereinigt) heute noch zu den Ländern des reichen Nordens zählt , wo die „reichen Christen“ wohnen, wie Hans Rosling6 sagt, der schwedische Erfinder des „gapminders“ – eines faszinierenden Datenspeichers, der nicht nur statistische Zahlen sondern Entwicklungen über 200 Jahre darstellt (www.gapminder.org). Wahr ist auch, dass heute geborene Schweizerinnen und Schweizer mit einer Lebenserwartung von 82 Jahren rechnen können (China und Brasilien mit 72 – 73, Afghanistan und die Demokratische Republik Kongo mit 44 bzw. 48 Jahren). Aber die herausragende Stellung der Schweiz hat ihre Geschichte – und damit wie jede Geschichte auch ein absehbares Ende.
Vor 200 Jahren waren die Unterschiede noch gering. Um 1800 hatten Herr und Frau Schweizer eine Lebenserwartung von 38 Jahren, die Chinesen rechneten mit 32. Mit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert nahm zunächst das durchschnittliche Einkommen stetig zu. Und ab 1875 begann in der Schweiz auch die durchschnittliche Lebenserwartung rasant zu steigen, im Unterschied zu den Kolonien in Asien, Afrika und Lateinamerika, die als Rohstofflieferanten dienten und von den Segnungen der Hygiene und des Gesundheitswesens bis Mitte des 20. Jahrhunderts, also bis zu ihrer Unabhängigkeit um 1960 herum, wenig bis nichts bekamen.
Als die Kolonien noch Kolonien waren, hat die Schweiz ihren Vorsprung herausgeholt.
Die Aufholjagd der Unabhängigen
Aufschlussreich ist dafür auch die Entwicklung der Kindersterblichkeit. Hatte sich die Sterberate von Kindern bis 5 Jahren in der Schweiz bis 1950 von über 300 (1871) auf etwa 30 von 1000 verringert, lag sie zu dieser Zeit in China und Indien noch immer über 300, in Ghana oder Brasilien bei über 200 auf Tausend. Heute liegt die Kindersterblichkeit in der Schweiz bei etwa 4.5 Promille, in China und Brasilien bei etwa 2 Prozent. Das ist eine rasante Abnahme innert 60 Jahren; der Zusammenhang mit der Unabhängigkeit und dem wirtschaftlichen Aufstieg ist offenkundig. - Und umgekehrt der Zusammenhang mit Krieg und Zerstörung: In Afghanistan sind es noch immer 199 von Tausend, die bis zum 5. Jahr sterben.
Einen eigenen Reiz hat, nebenbei, der Vergleich mit den aufstrebenden afrikanischen Ländern. Die Entwicklungs-Kurven von Ghana und der Schweiz laufen nahezu parallel: die Kindersterblichkeit nimmt ab und die Familien werden kleiner. Mit einem einfachen Unterschied: in der Schweiz hat die Modernisierung in Industrie und Gesundheitswesen etwa 100 Jahre früher begonnen: 1871. Ghana, die Heimat von Kwame Nkrumah und Kofi Annan, wurde erst 1957 unabhängig und hat heute bereits eine geringere Kindersterblichkeit als die Schweiz 60 Jahre nach Beginn der statistischen Aufzeichnungen. Ähnliche Kurven finden sich in etlichen ehemaligen Kolonien.
Es gibt keinen Grund zu Hochmut. Auf dem Weg in eine neue Welt
Hans Rosling, Arzt und Statistiker, Entwicklungshelfer, Berater der Schwedischen Akademie der Wissenschaften und des World Economic Forum in Davos, hat beim Novartis Symposium einmal mehr deutlich gemacht, wie überholt unser zweigeteiltes Weltbild ist. In der Tat leben etwa 2 Milliarden Menschen nach wie vor mit niedrigem Einkommen, viele von ihnen in Armut. Etwa 4 Milliarden leben in den Mittelstaaten – China, Indien, Brasilien gehören wie alle Schwellenländer dazu -, und der Rest ist die eine Milliarde in Ländern mit hohem ProKopf-Einkommen, wie die Schweiz. Wir haben es heute, mindestens, mit einer dreigeteilten Welt zu tun.
Die Machtverhältnisse haben sich seit 2008 nicht nur wirtschaftlich sondern auch politisch fundamental geändert. Die G-7 der alten Industrieländer, bis vor kurzem noch das entscheidende politisch-wirtschaftliche Machtzentrum, sind heute noch eine Vorbereitungsgruppe für die G-20 mit unter anderen China, Indien, Saudi-Arabien, Brasilien. Und für das Schlussfoto der G-20 steht „der christliche Amerikaner George W. Bush zwischen dem saudischen Moslem, dem katholischen Brasilianer und dem buddhistischen Kommunisten. Und der buddhistische Kommunist hat das Geld“ (Hans Rosling). China verfügt heute über 2.4 Billionen Dollar in seiner „State Administration of Foreign Reserve (SAFE)“ und akkumuliert täglich eine weitere Milliarde. „China braucht keine Entwicklungshilfe mehr“, sagt Rosling. In China geht es um „good governance“, Demokratie und Menschenrechte.
Hilfe zur Entwicklung brauchen die armen Regionen der Welt. Und die Kriegs- und Konfliktregionen benötigen diese Strategie von Hilfe und Entwicklung noch mehr, verbunden mit energischem Eingreifen zur rechten Zeit.
Das Spiel mit den Zahlen und Fakten des „gapminders“ reicht aus für diese Erkenntnis.
Entwicklungszusammenarbeit - im wohlverstandenen Eigeninteresse
Für die Schweiz bedeutet all das zweierlei: Erstens: Die Zeit des privilegierten Luxuslebens an der Spitze geht zügig zu Ende, und das Ende hat bereits begonnen. Die Länder der ehemaligen „Dritten Welt“ befinden sich im Aufstieg, die Schwellenländer sind eine Macht. Das grosse Wachstum findet in China, Indien, Brasilien statt – und in den Ländern südlich der Sahara, wie Ghana oder Aethiopien. „Lions on the move“ betitelt McKinsey seinen Report über die Entwicklung der afrikanischen Wirtschaft (Juni 2010).
Der Glaube, mit dem Rückzug in ein politisches Reduit könnte die Schweiz sich der Anpassung an diese Entwicklung entziehen und gleichzeitig von der Globalisierung profitieren, - dieser Glaube ist ein grober Irrtum. Oder eine Irreführung. Diese Ideologie führt nur in die Isolierung. Allein der Austausch, die Zusammenarbeit und, wo es not tut, auch die Hilfe werden der Schweiz eine wohlbehaltene Stellung in der globalen Gemeinschaft sichern. Kooperation wird für die Schweizer Wirtschaft und Gesellschaft insgesamt so gewinnbringend sein wie für international tätige Unternehmen wie Novartis.
Gesunder Staat und gesunde Wirtschaft können nur bestehen mit gesunden und gebildeten Menschen. Sie tragen bei zum Aufbau von Gemeinden, Regionen, Staaten. Sie werden mit ihren Unternehmen und ihren staatlichen Einrichtungen zu handlungsfähigen Partnern der wirtschaftlichen Entwicklung und Zusammenarbeit im globalen Beziehungsnetz.
In diesem Sinne liegt zielgerichtete, erfolgsorientierte Entwicklungszusammenarbeit im Interesse aller Beteiligten, nicht nur der Empfänger sondern auch der sogenannten „Donors“, der Geber. Handeln auf der Grundlage eines ethisch begründeten Eigeninteresses ist ein Zeichen von Intelligenz.
Die Schweiz hat auf dem Weg zu dieser Einsicht zweifellos noch Entwicklungsmöglichkeiten.