Vor kurzem besuchte ich mit meiner Frau eine Bergbauernfamilie in einem kleinen Bündner Dorf. Wir hatten Bäuerin und Bauer mit den drei Kindern, alle noch im Vorschulalter, bisher nur über ihre kleine Schrift namens „Milchbüachli“ *) gekannt, in welchem sie achtmal im Jahr für einen kleinen Kreis interessierter Leser unter dem Titel „Puura am Bärg – Leben zwischen Mythos und Moderne“ über die Landwirtschaft in den Bergen schreiben.
Anregendes „Milchbüachli“
Die Beiträge sind weder nostalgisch noch rückwärtsgewandt, sondern erzählen schlicht und ungeschminkt von den Freuden und Sorgen des Lebens dort oben an den steilen Hängen, wo sich die eigenen 15 Hektaren Land über mehrere hundert Höhenmeter verteilen.
Die Lektüre des „Milchbüachli“ hatte uns neugierig gemacht. Die feinsinnigen Texte voller Lebensweisheit und Lyrik verrieten zwei Menschen, welche mit einer besonderen Beobachtungsgabe auf ihre Umwelt zu schauen gelernt haben, dabei immer wieder neu das scheinbar Kleine und Unwichtige entdecken und das Geschaute so in Sprache umsetzen, dass Leserin und Leser die kleinen Freuden und Enttäuschungen der Autoren mitzuempfinden vermögen.
Eine Journalistin und ein Lehrer werden Bergbauern
Nach zwei Jahren standen wir uns also gegenüber, Schreibende und Lesende, zuerst im erst seit kurzem am Stromnetz angeschlossen Stall – die Kühe und Rinder waren, zusammen mit den andern Tieren des Dorfes, weiter oben auf der Weide –, später in der Wohnküche des etwas tiefer liegenden Wohnhauses. Es gab selbstgemachtes Brot und eigene Wurst, dazu „falsche Kapern“ nach eigenem Rezept (in Essig eingelegte Löwenzahnknospen).
Die Unterländer wollten verstehen, was eine ehemalige Journalistin aus dem Baselbiet, welche später an der Universität Basel Geowissenschaften studiert hatte, und ein ausgebildeter Lehrer am Leben in einem kleinen Bergdorf so sehr fasziniert, dass ihnen die damit verbundene schmale ökonomische Basis nicht wichtig zu sein scheint. Auch meine eigene Generation, während und kurz nach dem Krieg geboren, hatte die Sehnsucht nach dem einfachen Leben auf dem Land gekannt.
Damals zog man in abgelegene Tessiner Täler oder nach Longo Mai, war technikfeindlicher Zivilisationspessimist und kehrte dann nach einer gewissen Zeit ernüchtert in den Schoss der Wohlstandsgesellschaft zurück.
Keine falsche Romantik
Ganz anders bei unseren Gastgebern: Von falscher Romantik war nichts zu spüren. Beide sind ausgebildete Bauern. Auf die Technik wollen sie, dort wo sie sinnvoll verwendet werden kann, nicht verzichten. Mit den harten ökonomischen Randbedingungen setzten sie sich realistisch auseinander, finden Eigeninitiative und Innovation wichtig und suchen nach Wegen, die Abhängigkeit von den staatlichen Geldern zu verkleinern.
Heikle Themen waren nicht tabu: Wie man es auch drehen und wenden mag, Bergbauern hängen letztlich zu 50 bis 75% von den Direktzahlungen ab und müssen auch so noch mit einem Budget zurechtkommen, mit dem im Unterland eine fünfköpfige Familie kaum auskäme. Doch man lebe eben nicht in einer Stadt, meinten die Beiden, sondern im eigenen Haus, bewirtschafte und pflege das eigene Land und trage Sorge dazu. Freiheit und Verantwortung bestimmten ihr Leben, und das sei ihnen wichtiger als das ökonomische Schlaraffenland.
Bürokratische Schattenseiten
Doch an diesem Punkt, kurz vor dem Abgleiten in die romantische Verklärung, kamen auch die Schattenseiten zur Sprache: Als Empfänger staatlicher Gelder gerate man leicht in eine entwürdigende Abhängigkeit von Bürokraten, fülle abends nach der physischen Arbeit endlos Formulare aus und müsse sich von Schreibtischmenschen sagen lassen, wie man das Land ökologisch richtig zu bewirtschaften hätte, von Leuten, die es nicht einmal für nötig fänden, auf die eigenen Ideen einzugehen, nur weil sie nicht irgend einer Norm entsprächen.
Manche würden das Land, über das sie befänden, kaum kennen, das sei entwürdigend. Da verzichteten sie lieber auf gewisse Zahlungen, als Dinge zu tun, welche für den durchschnittlichen Fall vielleicht sinnvoll seien, aber oft keine Rücksicht auf den besonderen Fall nähmen.
Kurz: Es gibt zu viele (gut gemeinte) Vorschriften und zu viele Amtsstubentäter, welche diese undifferenziert umsetzen - diese Botschaft war klar und glaubwürdig, weil sie ganz offensichtlich von Personen mit grossem theoretischen und praktischen Wissen kam. Doch dann waren die Klagen unserer Gastgeber auch schon vorbei.
Studiengang „Umweltnaturwissenschaften“
Auf dem Heimweg gingen meine Gedanken zurück ins Jahr 1987, als an der ETH der neue Studiengang „Umweltnaturwissenschaften“ eröffnet worden war. Ich profitierte damals von der Gunst der Stunde und durfte zusammen mit Kollegen das neuartige Ausbildungskonzept in seinen Grundzügen konzipieren. Unser zentrales Anliegen bestand darin, die grosse technische und naturwissenschaftliche Kompetenz der ETH für die Lösung der anstehenden globalen ökologischen Probleme und die Anforderungen der Praxis besser nutzbar zu machen.
Nicht spezialisierte Physiker, Chemiker oder Biologen wollten wir ausbilden, sondern interdisziplinär denkende Naturwissenschaftler, welche die historisch gewachsenen disziplinären Grenzen zu überschreiten im Stande sind. Das Verständnis für das theoretische Fundament sollte gleichermassen geweckt werden wie dasjenige für die Anforderungen der Praxis. Bezüge zu Nachbarwissenschaften wurden hergestellt, einerseits zu den Ingenieuren, den ‚Machern’ also, andererseits zu den Sozial- und Geisteswissenschaften, ohne die jede Bemühung um eine ökologisch bessere Welt ein technokratisches, letztlich zum Scheitern verurteiltes Unternehmen bleibt.
Tschernobyl und Schweizerhalle als Menetekel
Für ein oberes Semestern war eine so genannte Fallstudie geplant, bei der sich ein ganzer Jahrgang von Studierenden zusammen mit Leuten aus der Praxis mit einem konkreten Problem beschäftigen sollten, mit der Renaturierung eines Flusses zum Beispiel oder mit den städtebaulichen, gesellschaftlichen und ökologischen Problemen der Umnutzung einer Industriebrache. Und schliesslich hatte jede Absolventin, jeder Absolvent während eines halben Jahres eine Berufspraxis zu absolvieren, um die Grenzen des im Hörsaal vermittelten Wissens zu erfahren.
Während der Vorbereitungsarbeiten ereigneten sich der Reaktorunfall in Tschernobyl (26. April 1986) und kurz danach der Brand einer Lagerhalle von Sandoz in Schweizerhalle (1. November 1986), welcher in der Folge zu einer chemischen Verschmutzung des Rheins bis nach Holland durch das in den Fluss gelangende Löschwasser führte.
Diese Ereignisse schienen uns wie das Menetekel an der Wand, aber offenbar nicht nur den jungen Enthusiasten der ETH, denn der ETH-Rat, setzte nach einer kaum mehr zu unterbietenden Planungszeit den neuen Studiengang auf das Herbstsemester 1987 in Kraft. Er erfreute sich von Anfang an eines grossen Zulaufs.
Die Gefahr der Expertokratie
„Die andere Seite“ kennen lernen – dass dies eine notwendige Aufgabe sein würde, war den Protagonisten des Studienganges wohl immer bewusst. Es gab seit Anfang an ein den Studiengang begleitendes Projekt „Berufsforschung“, das dem beruflichen Werdegang der Absolventen gewidmet ist und unter anderem permanent den Wert und die Praxistauglichkeit der verschiedenen Lehrinhalte überprüfen soll.
Und doch, der Besuch bei der Bauernfamilie hat mich nachdenklich gemacht. Natürlich haben wir nicht (nur) Formular-Entwerfer ausgebildet, sondern unzählige Personen mit Wissen UND Empathie für Mensch und Umwelt. Aber ein bisschen Wahrheit steckt vielleicht doch in der Erfahrung unserer Gastgeber, ein Quentchen, das nicht nur für die Landwirtschaft zutreffen mag, sondern auch für ganz andere Bereiche.
Jede neue Ausbildung trägt unweigerlich auch zur Expertokratie bei; sie läuft Gefahr, Regeln und Reglemente über die spezielle Erfahrung des Einzelnen zu stellen. Alles wird professionalisiert und verallgemeinert, aber wird es dabei besser, wird dabei vielleicht nicht anderes wertvolles Wissen verdrängt, weil es nicht ins Schema passt?
Das berühmte Restrisiko ist kein Übel
Freiheit und Verantwortung, das ist wohl die Losung nicht nur von Bergbauern, sondern letztlich von uns allen. Und doch tragen wir ständig dazu bei, diese Losung zu untergraben. Jedes „Ereignis“ ruft nach Schuldigen und neuen Vorschriften, dabei vergessen wir, dass das berühmte Restrisiko nicht ein Übel ist, sondern jene notwendige Zutat, welche unser Leben frei und lebenswert macht. Bergbauern täten unseren Hochschulen gut.
*) Das Milchbüachli kann abonniert werden bei: Enrico & Mira Battaglia-Wenger, [email protected]