Zunächst einige Präzisierungen und Definitionen, da mit ungenauen Bezeichnungen, populistischen Sprüchen und reflexartiger Abwehr der objektiv falsche Eindruck entsteht, dass – wie dies bei Euro und Griechenland behauptet wurde – «die EU versage», dass «Europa sich in einer tiefen Krise befinde».
Migration ist der Normalfall
Wanderungsbewegungen gibt es seit Beginn der Menschheit und wird es immer geben. Sie waren und bleiben Wirtschaftsmotoren und soziale Multiplikatoren. In der Folge von Krisen – Krieg, Terrorismus, Korruption, Naturereignisse – können sich diese Bewegungen aber so plötzlich beschleunigen, dass der normale Fluss über die Ufer zu treten droht. So wie jetzt in der Folge der kriegerischen Implosion von Syrien, der Bedrohung durch islamistischen Terror im Mittleren Osten und in Nordafrika sowie wirtschaftlicher Hoffnungslosigkeit für eine grosse Mehrheit in autokratisch regierten Staaten Afrikas.
Entsprechend hat sich eine grosse Anzahl Menschen aus diesen Nachbargebieten von Europa aufgemacht, einerseits als Flüchtlinge wegen direkter Bedrohung an Leib und Leben, andererseits als Immigranten wegen fehlenden wirtschaftlichen Perspektiven. Sie wollen in West- und Nordeuropa Sicherheit und menschenwürdiges Dasein finden.
Weder Flüchtlinge noch Immigranten sind aber diejenigen europäischen Staatsbürger, welche von der vierten und wichtigsten der EU-Freiheiten, der kontinentweiten Personenfreizügigkeit, Gebrauch machen. Das gilt für den polnischen Spengler in London ebenso wie für den sizilianischen Pizzaiolo in Oslo, für den spanischen Gärtner am Genfersee ebenso wie für den litauischen IT-Spezialisten in Wien. Natürlich auch für den schweizerischen Hochbauzeichner in Hamburg. All dies unbesehen davon, ob es sich bei den Entsende- und Empfangsstaaten um EU-Mitglieder oder nicht (Norwegen, Schweiz) und Schengen-Mitglieder oder nicht (Grossbritannien, Irland, Zypern) handelt.
Dass dieses grenzenlose und – gerade auch deshalb – prosperierende Europa gewaltige Anziehungskraft ausübt, ist verständlich. Ebenso klar ist, dass der entsprechende aussereuropäische Zufluss nicht weiter so massiv, illegal, menschenverachtend und unkoordiniert weitergehen kann. Gleichzeitige Massnahmen an drei verschiedenen Hauptfronten sind nötig, welche nur gemeinsam, also von der EU getroffen und umgesetzt werden können. Solche Schritte wurden von der EU-Kommission bereits vorgeschlagen, bis anhin aber zu einem guten Teil von EU-Staaten vor allem Osteuropas blockiert.
Erste Herausforderung: Verteilung und Aufnahme
Der offensichtlichste Handlungsbedarf besteht momentan an der Heimatfront Europas, nämlich bei der gerechten Verteilung und menschenwürdigen Aufnahme aussereuropäischer Migranten. Eine einfache Lösung gibt es nicht. Das in Europa und global angepriesene simple Rezept, dass jede Migrationspolitik mit der Sicherung der Aussengrenzen beginnen müsse, ist sowohl kontinentweit als auch für alle einzelnen europäischen Länder nicht machbar. Und das nicht allein aus praktischen, sondern auch aus übergeordnet politischen und ethischen Gründen: Europa hat eben noch den eisernen Vorhang als letztes Symbol jahrhundertlanger Trennungen und Abgrenzungen beseitigt.
Es wird immer wieder eine neue Bootsroute über das Mittelmeer, einen neuen Landweg im Osten und Süden geben, die auch mit demonstrativem Ausrollen von Stacheldraht – dies ausgerechnet von den Ungarn, welche anscheinend 1956 und 1989 vergessen haben – nicht abgeriegelt werden können. Beide Punkte gelten übrigens ebenso für die grüne Grenze des EU-Nichtmitglieds Schweiz.
Mögliche Lösungen zielen im Moment vielmehr in Richtung grosser EU-Auffanglager in Süd- und Osteuropa, überwacht von Brüssel, um minimale Standards zu garantieren und um von dort aus die Verteilung in die einzelnen Länder zu organisieren. Letzteres ist bekanntlich noch sehr umstritten, und ein gewisser Zwang wird kaum zu umgehen sein. Zwang gegenüber aufnahmeunwilligen Ländern mittels finanziellen Hebeln, Zwang aber auch gegenüber den Migranten, welche nicht alle in vermeintliche deutsche und schwedische Paradise gelangen können, sondern jenen europäischen «safe haven» anzunehmen haben, welcher für sie nach Prüfung ihres Hintergrundes ausgewählt worden ist. Dies wiederum wird zu einer Europäisierung auch der Asyl- und Migrationspolitik führen. Europäisierung im wörtlichen Sinn, da sich einer solchen Lösung weder Schengen-Nichtmitglieder, noch die Nicht-EU-Länder werden entziehen können.
Zweite Herausforderung: Schlepper stoppen
Ebenso wichtig ist die nachhaltige Störung und wo möglich Unterbrechung der kriminellen Schleppertätigkeit vom Ursprungsland bis ins Auffanglager der Migranten. Damit sind natürlich nicht kleine lybische Briganten und noch weniger Flüchtlinge gemeint, welche gegen freie Passage ein Gummiboot mit Schicksalsgenossen übers Meer lenken. Die Drahtzieher sitzen in den Herkunftsländern selbst, so etwa höchste zivile und militärische Kreise in Eritrea, welche ganze «Ladungen» von Landsleuten an gut bewaffnete Warlords an den Hauptfluchtrouten auf beiden Seiten des Mittelmeers verkaufen.
Dies wird noch schwieriger werden als Empfang und Verteilung. Der Griff nach unkonventionellen und muskulösen Massnahmen wird unumgänglich sein. Ein «Dialog» genügt nicht, die Skala muss von finanziellen Anreizen und vor allem Strafen, beispielsweise in Form von internationalen Boykotten, bis hin zu gezielten militärischen Massnahmen reichen. Dies ist höchst komplex, da im Rahmen der UNO mit den wohlbekannten Vetomächten, welche immer und überall auf «Nichteinmischung in innere Angelegenheiten» pochen, wohl kein entsprechender Konsens zu finden sein wird.
Untätigkeit gegenüber den menschenverachtenden «human traffickers» ist aber schlimmer, sowohl aus ethischen als auch aus politischen Gründen. Sie führt zum Erstarken von rechtsextremen, von populistischen und von nationalkonservativen Bewegungen in praktisch allen europäischen Ländern; und dies wiederum verschiebt als Zweitwirkung die bislang «normalen» Kräfte des politischen Gleichgewichtes. Die Regierung von David Cameron ist ein Beispiel für Politiker, welche ihren Wählern einfache Lösungen vorgaukeln, welche in Tat und Wahrheit gar nicht existieren.
Dritte Herausforderung: Herkunftsländer
«Die Mutter aller Schwierigkeiten» für die europäische Migrationspolitik liegt aber wohl in den Herkunftsländern der Migranten. Zunächst zu Syrien. Zwei Punkte sind wohl offensichtlich. Einmal muss der Westen – unter heftigem Zuklemmen der Nase – Assad in eine politische Übergangslösung mit einbeziehen. Dies um so mehr, als im Moment deutlich wird, dass die Strippenzieher des «Schlächters von Damaskus» in Moskau und Teheran diesen nicht fallenlassen, im Gegenteil.
Zweitens muss das mörderische Kalifat im Irak und in Syrien entschlossener als bisher attackiert werden. Dies bedeutet Druck auf die Türkei – leider scheint der konservative Sunni und machtbesessene Autokrat Erdogan die Präsenz der sunnitischen IS-Extremisten an seinen Grenzen jener eines gemässigten und prosperierenden Kurdenstaates vorzuziehen –, aber auch vermehrte militärische Aktion. Der IS kann nur vertrieben, nicht befriedet werden.
Präsident Hollande machte eben den längst fälligen und richtigen Schritt mit der Ankündigung der Ausdehnung von französischen Luftoperationen vom IS-besetzten Irak auf den entsprechenden Teil von Syrien. Natürlich kann die verbrecherische Koalition von schwerbewaffneten bathistischen Popanzen und digital fanatisierten Halbstarken aus weltweiten islamistischen Kreisen nur am Boden zur Umkehr gezwungen werden. Dies wird durch direkt Interessierte zu erfolgen haben, ist aber nur mit robuster westlicher Unterstützung möglich.
Längerfristig braucht es Massnahmen in den Herkunftsländern jener Migranten, welche primär aus wirtschaftlichen Gründen ihr Land verlassen – breite Grauzonen zwischen den Kategorien Flüchtlinge und Immigranten existieren natürlich. Immerhin gibt es Beispiele dafür, dass ein afrikanischer Staat im Gegenzug für Entwicklungsgelder zumindest die Ausreise eigener Wirtschaftsflüchtlinge erschwert. So etwa ein bilateraler Vertrag zwischen Senegal und Spanien, welcher vor ein paar Jahren den Strom auf der balearischen Migrationsroute nach Europa zum Rinnsal werden liess.
Hauptschuldige hier sind ganz eindeutig zahlreiche afrikanische Regierungen und Macheliten. Besser als in allen Beschreibungen wird dies in der Anklagerede des senegalesischen Autors Abasse Ndione gegen seinen Staat und seinen Kontinent ausgedrückt, welche der Tagesanzeiger in seiner Ausgabe vom 3.9.2015 abdruckte. Eloquenter kann man es kaum auf den Punkt bringen: «Nur Ministersöhne bleiben in Afrika».
Konsequenzen
Migration als die grosse aktuelle Herausforderung an Europa: Aus dieser Umrissskizze des Problems und möglicher Lösungen gehen zumindest zwei Konsequenzen hervor. Erstens wird auch hier deutlich, dass Lösungen, wenn überhaupt, bei mehr und nicht weniger Europa liegen. Die Migrationspolitik ist das Paradebeispiel dafür, dass einzelstaatliche Lösungen, welche auf Abschottung setzen, aussichtslos sind. Aus schweizerischer Perspektive wird zweitens deutlich, dass auch gerade hier Alleingänge ausserhalb einer EU-Politik unmöglich sind.