Mit Ausnahme jener privilegierten Strategen-Grüppchen in den Parteizentralen, die immer schon rund zwei Stunden vor Bekanntgabe der so genannten Prognosen informiert werden, glaubten die meisten Bundesbürger ihren Augen und Ohren nicht zu trauen, als am Sonntag um 18 Uhr die Ergebnisse der letzten Wahlumfragen an der Saar über die Bildschirme flimmerten: Die seit August 2011 mit verschiedenen Koalitionen in Deutschlands kleinstem Flächenland, dem Saarland, regierende Ministerpräsidentin Annegret Kramp-Karrenbauer und die CDU legten 5,5, Prozent zu und errangen mit 40,7 Prozent der abgegebenen Stimmen einen für die jetzigen Zeiten geradezu sensationellen Sieg. Dagegen büsste der bisherige Regierungspartner SPD (in Saarbrücken ist seit April 2012 eine Grosse Koalition am Ruder) ein Prozent im Vergleich zur vergangenen Landtagswahl ein. Dass FDP und Grüne den Einzug ins Regionalparlament verpassten, haben sie vor allem ihren internen Querelen zu verdanken, was – wenigstens teilweise – auch für das schlechte Abschneiden der rechtspopulistischen Alternative für Deutschland (AfD) gilt.
Wieder irrten die Demoskopen
Natürlich hat in den Parteizentralen (und Redaktionsstuben) sofort die hektische Kaffeesatz-Leserei darüber eingesetzt, welche Konsequenzen das überraschende Votum an der Grenze zu Lothringen nach sich ziehen werde. Zunächst jedoch erscheinen drei Dinge besonders bemerkenswert:
1. Die Wahlbeteiligung. Während überall sonst zwischen Rhein und Oder seit Jahren schon die Zahl der Stimmen-Abstinenzler (mit den unterschiedlichsten Ausreden) teilweise schon fast dramatisch zunimmt, stieg an der Saar der Anteil derer um fast zehn Prozent (auf nahezu 70 Prozent), die in den Kabinen ihr Kreuzchen machten.
2. Der ausgebliebene „Schulz-Effekt“. Das dürfte mit Sicherheit die grösste Enttäuschung bei der SPD sein. Seit sich der einstige EU-Parlamentspräsident im Januar als Nummer eins präsentieren liess, brach sich bei den Sozialdemokraten eine mitunter schon an Heiligen-Verehrung grenzende Begeisterung Bahn. Dabei vergassen offensichtlich viele die alte Polit-Weisheit, dass Stimmungen noch lange keine Stimmen sind. Umso grösser ist dort natürlich jetzt der Katzenjammer.
3. Auf jeden Fall haben sich mit Blick auf das Saarland wieder einmal die Demoskopen geirrt – oder sie wurden von den Befragten in die Irre geführt. Bis zum Schluss sagten sie ein extrem enges Kopf-an-Kopf-Rennen voraus.
Ist also der „Schulz-Effekt“ schon wieder verpufft? Haben die Saarländer, wie nicht wenige Leitartikler bereits orakeln, für den Schulz-Zug die Bremse gezogen? Hat er wirklich einen „kapitalen Fehlstart hingelegt“? Wer über die Jahre Wahlkämpfe und deren Ausgänge beobachtet hat, ist mit solchen apodiktischen Aussagen vorsichtig. Richtig jedoch ist, ohne Zweifel, dass der mitunter zum Polit-Messias hochgejubelte SPD-Hoffnungsträger gleich bei seinem ersten ernsthaften Popularitätstest zumindest auf ein Normalmass zurückgestutzt wurde.
Es ist auch nicht schwer, die Ursachen dafür zu ergründen. Vergleichbar mit den vorangegangenen Landtagswahlen in Baden-Württemberg (Winfried Kretschmann/Grüne) und Rheinland-Pfalz (Malu Dreyer/SPD), hat auch in Saarbrücken mit dem Vertrauensbeweis für Annegret Kramp-Karrenbauer in erster Linie eine Persönlichkeitswahl stattgefunden. Nun spricht allerdings auch manches dafür, dass etwas Ähnliches geschieht, wenn am 14. Mai in Deutschlands grösstem Bundesland, Nordrhein-Westfalen, ein neuer Landtag bestimmt wird. Dort, indessen, steht die ebenfalls populäre Hannelore Kraft zur Wahl an – die ist Sozialdemokratin. Und der jetzt abgeschmetterte Martin Schulz kommt gleichfalls aus NRW …
Ende von rot-grünen Träumen?
2017 wird in Deutschland nicht zu Unrecht als „Superwahljahr“ bezeichnet. Ausser, wie am Sonntag, im Saarland und Mitte Mai in Nordrhein-Westfalen, finden am 5. Mai in Schleswig-Holstein Landtagswahlen und am 24. September die Bundestagswahl statt. Wenn es tatsächlich diesen in Stuttgart, Mainz und jetzt auch in Saarbrücken zu beobachtenden Amtsbonus gibt, dann stehen für die Sozialdemokraten zumindest an der Ostsee und an Rhein und Weser die Chancen nicht schlecht. Denn sowohl Hannelore Kraft in Düsseldorf als auch Torsten Albich in Kiel geniessen hohes persönliches Ansehen. Und bei aller Wertschätzung für das kleine Saarland mit seinen knapp eine Million Menschen – die von Nordrhein-Westfalen (17, 9 Millionen Einwohner) ausgehende Signalwirkung auf den Bund ist natürlich ungleich höher.
Vor allem braucht sich die in NRW (mit den Grünen) regierende SPD mit hoher Wahrscheinlichkeit mit einer unangenehmen Frage nicht zu beschäftigen, über die sich sowohl die Bundespartei als auch zahlreiche Verbände und Zirkel im Lande zunehmend zerstreiten. Die Frage nämlich, ob denn die Sozialdemokratie – sei es zur Machterringung, sei es aus Nostalgie („Blut vom selben Blute“) – sich mit den unter dem heutigen Namen „Die Linke“ firmierenden Nachfolgern der einstigen DDR-Einheitspartei SED verbünden solle.
Nach eigenem Bekunden bekommt die Ministerpräsidentin schon beim Gedanken daran Pickel. Und eigentlich sollte auch das Sonntagsergebnis an der Saar den Befürwortern zu denken geben. Es wird auch wahrscheinlich manche Blütenträume welken lassen. Denn: Nicht nur, dass die Idee „rot-rot“ den Wählern überhaupt nicht gefiel (die „Linke“ sank gegenüber 2012 um 3,3 auf 12,9 Prozent), es war ja zugleich eine eindeutige Absage an Oskar Lafontaine – also an den „Oskar“, ehemals Oberbürgermeister in Saarbrücken, anschliessend unangefochtener Ministerpräsident an der Saar, danach Finanzminister in Berlin und SPD-Bundesvorsitzender, der dann im Zorn über den damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder beleidigt alle (ihm von der Partei verliehenen) Ämter wegwarf. Das haben ihm SPD-Traditionalisten nie verziehen und werden das wohl auch weiterhin nicht tun. Deswegen hat ihm mancher Genosse den Nasenstüber vom Sonntag, nicht nur insgeheim, gegönnt.
Wollen die Deutschen zurück zur „Mitte“?
Bei aller Vorsicht vor allzu schnellen Langzeitprognosen – es könnte aber sein, dass die saarländische Landtagswahl doch so etwas wie ein Indikator für eine politische Entwicklung in Deutschland darstellt. Nämlich einen Trend zurück zur politischen Mitte. Sicher, das blamable Abschneiden der Grünen und der Freien Demokraten (2011 immerhin Koalitionspartner der CDU in Saarbrücken) hängt ursächlich mit dem jammervollen Zustand vor Ort zusammen.
Aussagekräftiger ist da schon das vergleichsweise magere 6,2-Prozent-Ergebnis der bislang scheinbar unaufhaltsam nach oben stürmenden AfD. Auch hier spielten, zweifellos, interne Kräche mit. Aber auszuschliessen ist ebenfalls nicht, dass Anti-Islam-Parolen und Angstmache vor Flüchtlingen bei der Mehrheit der Bürger immer weniger Zugkraft entwickeln.
Bleiben als Fazit im Wesentlichen zwei Fragezeichen:
1. Ist das Wahlergebnis vom Sonntag aussagekräftig für „Berlin“? Falls ja, dann könnte die während der vergangenen Wochen im Zuge des „Schulz-Hype“ auch Unions-intern immer mehr unter Druck geratene Angela Merkel erst einmal aufatmen. Denn selten war das Wort vom „Stimmungstest“ so häufig unterwegs wie bis vor kurzem im Südwesten. Und ähnlich oft ging es um die Frage, ob sich in Deutschland eine „Wechselstimmung“ abzeichne. Hier kann die Kanzlerin durchaus Mass nehmen an ihrer (nicht nur Partei-)Freundin Kramp-Karrenbauer. Denn diese hat bewiesen, dass eine angesehene Regierungschefin sich durchaus einer – zumindest im Geiste – vereinten Gegnerschaft von links erwehren kann. Und zwar selbst dann, wenn jene von einer angeblich unaufhaltsamen Zuversicht getragen wird.
2. Was wird aus dem „Schulz-Effekt“? Dass die „Erdung des Messias“ bei CDU und CSU erst einmal Spannung weggenommen hat, ist normal. Wichtiger ist, was sich nun bei den Sozialdemokraten und ihrem gefeierten Spitzenmann tut.
Einerseits müsste jeder in Deutschland, dem das Funktionieren des demokratischen Systems am Herzen liegt, froh darüber sein, dass die älteste und verdienstvolle deutsche Partei aus ihrer Agonie gerissen wurde und endlich wieder Kraft und die Zuversicht ausstrahlt, auch wieder als Nummer eins die Geschicke des Landes leiten zu können. Dazu gehört – andererseits – jedoch, dass der Kandidat in zentralen Punkten bald eindeutig Position bezieht. Es ist ja nachvollziehbar, dass er im Moment alles tut, um nicht persönlich mit der Niederlage im Saarland in Verbindung gebracht zu werden. Müssig zu fragen, wie er wohl im Falle eines Sieges gesprochen hätte. Im Moment kann Schulz auch noch punkten, wenn er mit dem blossen Begriff „Gerechtigkeit“ durchs Land zieht. Nur, das wird er bald inhaltlich unterfüttern müssen. Und dann bleibt, schliesslich, noch die unbeantwortete Frage: „Rot-rot“ oder „rot-rot-grün“ unter allen Umständen? Zumindest im Westen der Republik ist die Zahl der Freunde einer solchen politischen Farbenkombination noch immer höchst überschaubar.