Der Berliner Historiker Herfried Münkler hat dieser Tage in einem Beitrag der NZZ prophezeit, ganz Europa werde sich nach dem Ende ihrer Kanzlerschaft «bald sehnsuchtsvoll der Zeiten erinnern, da Angela Merkel die führende Politikerin Europas war». Das mag angesichts des seit einiger Zeit in den verschiedensten Tonarten praktizierten Merkel-Bashings eher kühn erscheinen. Doch Münkler begründet seine These mit bedenkenswerten Argumenten.
Umsichtige Führungsmacht
Unter anderem macht er geltend, Merkel habe in die deutsche Aussenpolitik so etwas wie einen weiblich geprägten Politik-Stil eingeführt, der im Ganzen durch ein zurückhaltendes Auftreten gekennzeichnet sei. Dies habe gleichzeitig den nach der deutschen Wiedervereinigung einsetzenden «Aufstieg Deutschlands zur führenden Macht innerhalb der Europäischen Union» reibungsloser ablaufen lassen, als man das vor dem Hintergrund des «Unheils, das Deutschland in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts über Europa gebracht hatte» hätte erwarten können.
Der Historiker Münkler rechnet Merkel sogar das «Offenhalten der Grenzen auf dem Höhepunkt der Migrationskrise» im Jahre 2015 als eine weitblickende Tat an. Damit habe sie, meint er, einen möglichen «Zusammenbruch der Länder verhindert, in denen sich nach einer Grenzschliessung die Migranten gestaut hätten». So sei zugleich die Gefahr eines neuen Aufflackerns der «jugoslawischen Zerfallskriege» verhindert worden.
Über diese These lässt sich natürlich lange streiten – und das wird ja selbst innerhalb der CDU/CSU-Kanzlerpartei bis auf den heutigen Tag mit Inbrunst getan. Der renommierte Historiker macht mit seiner Darstellung immerhin deutlich, dass man Merkels kontroverse Entscheidung vom Sommer 2015 zur erleichterten Aufnahme der in Ungarn festsitzenden Flüchtlinge durchaus in einem übergeordneten pro-europäischen Zusammenhang sehen kann.
Klartext gegenüber Putin
Was Münkler aber merkwürdigerweise nicht erwähnt, ist die entschiedene und für den gesamten Westen tonangebende Haltung, mit der Angela Merkel auf Putins völkerrechtswidrigen Husarenritt der Krim-Annexion und seine militärische Einmischung in den ukrainischen Donbass-Gebieten reagiert hat. Ohne ihre entschlossene Führung hätte es wahrscheinlich keine EU-Sanktionen gegenüber der russischen Anmassung gegeben.
Aber ohne ihren Einsatz wäre es wohl auch nicht zu den – wiewohl brüchigen – Waffenstillstandsvereinbarungen mit Putin in Minsk gekommen. Im Umgang mit dem gerissenen Machtmanipulator Putin gibt Angela Merkel, die selber gut Russisch spricht, mit Abstand die überzeugendste Figur ab: Sie handelt, wo Reaktionen auf unakzeptables Verhalten unumgänglich sind, und lässt gleichzeitig den Dialog nicht abreissen.
Mitregisseurin eines geschichtlichen Erfolgskapitels
Angela Merkel ist zwar die erste Frau an der Regierungsspitze. Aber sie wird keineswegs die erste Führungsfigur der deutschen Nachkriegsgeschichte sein, die – wie Münkler prophezeit – nach ihrem Auszug aus dem Kanzleramt viele Menschen in Europa vermissen werden. Eine beträchtliche Portion Respekt, Verehrung und in einigen Fällen sogar Nostalgie ist nach ihrem freiwilligen oder erzwungenen Abgang von der politischen Bühne einer Reihe ihrer Vorgänger entgegengebracht worden: Konrad Adenauer, Ludwig Erhard, Willy Brandt, Helmut Schmidt, Helmut Kohl.
Mit guten Gründen wird mitunter argumentiert, die Zeit der Bonner und Berliner Bundesrepublik sei das bisher beste und für Europa gedeihlichste Kapitel der langen windungsreichen deutschen Geschichte. Angela Merkel zählt unbestreitbar mit zu den Regisseuren dieser Erfolgsgeschichte. Vielleicht wird man eines Tages sogar unter den verbissenen Merkel-Hassern von Rom bis Chemnitz und Budapest zu dieser Einsicht gelangen.