Noch im Dezember 2015 hatte das angesehene amerikanische „Time Magazin“ Angela Merkel zur „Person of the Year“ gekürt – zur Persönlichkeit des Jahres. In der Begründung dieser Ehrung schrieb die Chefredakteurin, Nancy Gibbs, dass die deutsche Bundeskanzlerin „…mehr von ihrem Land verlangt, als andere Politiker wagen würden, …und weil sie in einer Welt eine unerschütterliche moralische Mahnung gibt, an der es mangelt“. Und weiter: Merkel setze „Barmherzigkeit als Waffe ein“. Nach Willy Brandt war die Berliner Regierungschefin die zweite politische Figur im Nachkriegs-Deutschland, der diese Lobpreisung widerfuhr.
Geachtet und geächtet
Daheim in Deutschland freilich bläst der Berliner Regierungschefin zunehmend ein kalter Wind ins Gesicht, der sich möglicherweise sogar noch zu einem eisigen Sturm auswachsen könnte. Bis in den Spätsommer vergangenen Jahres war sie in einem Masse geachtet, wie schon lange kein Spitzenpolitiker mehr vor ihr. In der Bevölkerung erreichte sie hohe Zustimmungswerte, und die eigene – christdemokratische und – soziale – Gefolgschaft sah in ihr entsprechend die Erfolgsgarantie für sich mit Blick auf die künftigen Wahlen. Inzwischen, freilich, bewegt sich die Stimmung im Lande auf einen Punkt zu, wo sich die bisherige Achtung schnell in politische Ächtung verwandeln könnte. Bedingt durch den unvermindert anhaltenden Zustrom an Flüchtlingen und Asyl-Suchenden aus Nahost und dem afrikanischen Raum und – nicht zuletzt – angeheizt durch die kriminellen An- und Übergriffe auf Frauen an Silvester in Köln und anderen deutschen Grossstädten, geraten die Bundesregierung und mithin vor allem Merkel immer stärker unter Druck. Sie hatte den Bürgern versprochen „Wir schaffen das!“. Inzwischen sind mehr als eine Million Zufluchtsuchende ungehindert (und vieltausendfach unregistriert) ins Land geströmt. Aber noch immer ist die Frage nicht beantwortet nach dem „wie“ – also, wie Deutschland und die Deutschen die daraus erwachsenden, gewaltigen Herausforderungen schultern sollen.
Wenn man den Verlauf des jüngsten Treffens der bayerischen CSU-Landtagsfraktion mit Angela Merkel im malerischen Wildbad Kreuth zum allgemein gültigen Stimmungs-Barometer nehmen würde, müsste man unweigerlich zu dem Schluss kommen, dass für die Kanzlerin die Götterdämmerung angebrochen sei. Die Stimmung, sagen Teilnehmer, sei so eisig gewesen wie die Temperatur draussen. CSU-Chef Seehofer sprach von einem „enttäuschenden“ Tag. Und selbst bei der Bitte der Bundeskanzlerin, man möge ihr doch wenigstens für die anstehenden, internationalen Verhandlungen Glück wünschen, rührte sich keine Hand. Denn Merkel hatte – wieder einmal – der bayerischen Forderung widersprochen, eine jährliche Obergrenze für Zuwanderer festzulegen. Und dies, obwohl der einzige, bisher noch verbliebene Verbündete der Merkel´schen Flüchtlingspolitik – Österreich – gerade von der Fahne gegangen war und eine solche, nationale, Limitierung beschlossen hatte.
Auf dünnem Eis
Keine Frage, mit ihrem (zumindest nach aussen hin) unerschütterlichen „Wir schaffen das“ bewegt sich die Berliner Kanzlerin auf gefährlich dünnem Eis. Zumal sie nach wie vor auf eine „gesamteuropäische“ Lösung bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise setzt. Doch die Bereitschaft der 27 anderen Partner in der Union, dabei mitzuhelfen, erscheint gegenwärtig noch geringer als schon zuvor. Im Gegenteil – abgesehen von mehr oder weniger nachvollziehbaren innenpolitischen Gründen, spielt deutlich erkennbar in einer ganzen Reihe von Nachbarstaaten eine „Ätsch“-Haltung eine erhebliche Rolle. „Ätsch“, wird dort in Richtung Berlin signalisiert, „Ihr Deutschen habt euch den Schlamassel selbst eingebrockt, indem ihr – ohne jegliche vorherige Absprache mit uns - die Grenzen für die Flüchtlingsströme geöffnet habt. Jetzt seht zu, wie ihr damit fertig werdet“.
Natürlich wird damit zugleich auch eine Retourkutsche gefahren. Jetzt kann man es man in Rom, Athen, Budapest, Madrid, Lissabon, Warschau und wohl auch Paris den Deutschen endlich heimzahlen. Kann Revanche nehmen für so manche Berliner Besserwisserei und Härte während der diversen europäischen Finanzkrisen oder beim Formulieren der Anti-Putin Politik in der Folge der Krim- und Ukraine-Spannungen. Und hat nicht auch die Bundesrepublik in den Jahren zuvor Italien und Griechenland praktisch allein gelassen, als diese den Menschenstrom übers Mittelmeer nicht mehr bewältigen konnten? Auch wenn solche Anklagen und Vorwürfe teilweise sachlich falsch und politisch unklug sind, so sind sie damit doch sehr existent. Jedoch schlimmer als das (aber damit eng zusammenhängend) ist ein anderer Vorgang: Mit ihrem stoischen Festhalten an einer gesamteuropäischen Problemlösung sitzt Merkel jetzt in einer Falle. Nachdem erst Schweden und Dänemark ihre Grenzen für Zuwanderer dicht machten und nun auch Österreich mit der Obergrenze „national“ reagierte, befindet sich die Bundesregierung in einer Zwickmühle – entweder sie schliesst sich diesem Trend (und damit auch der Forderung aus Bayern) an, oder die Anti-Stimmung im Inland verstärkt sich weiter.
Druck von unten und Angst in den Parteien
Natürlich ist das, was gegenwärtig in der Europäischen Union passiert, eine Katastrophe. Die Gemeinschaft der 28 ist drauf und dran, unverantwortlich leichtfertig das zu verspielen, was sechs Länder in der Mitte der 50er Jahre als Lehre aus den verheerenden Kriegen des 20. Jahrhunderts einmal auf den Weg gebracht hatten und was von klugen und weit blickenden Politikern anschiessend zu einem grandiosen Werk geformt worden war – die Einigung des verfeindeten, zersplitterten „alten“ Kontinents. Vor diesem Hintergrund ist es geradezu unglaublich, mit welcher Geschwindigkeit (keineswegs nur in den neuen, osteuropäischen Mitgliedstaaten) zur Zeit eine Renationalisierung erfolgt und mit welcher Brachialgewalt auf das gesamteuropäische Gebäude eingedroschen wird.
Das ist, nicht zuletzt, deshalb so deprimierend, weil es im Grunde ja wirklich nur eine vernünftige Lösung der Krise gibt – nämlich die von Angela Merkel verfolgte „europäische“ Strategie. Erstens ist kein einziges Mitgliedsland in der Lage, sich dem Problem zu stellen. Natürlich auch Deutschland nicht. Zweitens: Sieht denn tatsächlich niemand, was es allein für die Wirtschaft bedeuten würde, wenn man die nationalen Grenzen wieder errichtete, vielleiht sogar Zölle erhöbe und damit die riesige Errungenschaft namens „Gemeinsamer Markt“ mit seinem freien Reise-, Personen-, Kapital- und Güterverkehr kaputt machte? Solche nüchternen Überlegungen werden natürlich immer dann schnell überlagert, wenn Druck „von unten“ – also aus der Bevölkerung – kommt und Wahlen vor der Tür stehen. Fast mit Händen zu greifen ist deshalb auch die Angst der Politiker besonders in den bundesdeutschen „Traditionsparteien“, von dem Wählern sowohl schon dieses Jahr in fünf Bundesländern als auch 2017 im Bund wegen der Merkelschen Flüchtlingspolitik abgestraft zu werden.
Jawohl, in allen „Alt“-Parteien. Wer, im Übrigen, die augenblickliche Polit-Situation einmal kühl durchdenkt, kommt am Ende fast zwangsläufig zu der Erkenntnis, dass Angela Merkel in Wirklichkeit nur aus einer Richtung Gefahr droht. Nämlich ausgerechnet dort, wo sie in der Vergangenheit ihr stärkstes Zustimmungs-Potenzial verorten konnte – bei den Bürgern. Diese – zutiefst verunsichert hinsichtlich der mit dem Flüchtlingsstrom zusammenhängenden und ja für jedermann erkennbaren Probleme bei den Finanzen, beim Bildungssektor, bei Wohnungen und Arbeit usw. – diese Bürger wenden sich zunehmend von der etablierten Politik ab und, nicht selten sogar, Kräften und Gruppierungen zu, die einfache Lösungen versprechen, in Wirklichkeit aber ausser ihren Dagegensein kein Konzept aufweisen können. Das gilt, zuvorderst, für die weit nach Rechtsaussen gewanderte „Alternative für Deutschland“ (AfD). Sie könnte, sagen Umfragen, mittlerweile sogar dritte Kraft werden, wenn heute Wahlen in Deutschland wären.
Keine Gefahr aus dem Parlament
Der Bundeskanzlerin ist in der Vergangenheit immer wieder unterstellt, ja vorgeworfen worden, sie habe im Grunde keine wirkliche politische Richtung, sondern fahre immer nur „auf Sicht“. Wie so ziemlich alle einfachen Thesen, ist auch diese ganz sicher falsch. Angela Merkel ist Naturwissenschaftlerin, Physikerin. Als solche hat sie gelernt, sich möglichst wenig von Gefühlen leiten zu lassen, sondern von Fakten. Das bedeutet ferner, dass es ihr Ehrgeiz ist, Dinge zum Abschluss zu bringen. Und zwar auch dann, wenn sich der Erfolg nicht so schnell einstellt. So mögen die Führungen in den diversen EU-Hauptstädten über die angebliche „deutsche Dominanz“ schimpfen. Dann müssten sie allerdings umgekehrt über die eigene, nicht selten klägliche Rolle während der diversen aussen-, wirtschafts- und finanzpolitischen Krisen nachdenken, denen sich auch die EU in der Vergangenheit ausgesetzt sah.
Es mag verwundern, aber wohl keine grosse Gefahr droht der Bundeskanzlerin aus dem parlamentarischen Umfeld. Der Koalitionspartner SPD hat sich ohnehin quasi an die Union und Merkel angehängt – auch und gerade bei der Frage nach einer europäischen Lösung des Flüchtlingsproblems. Noch mehr gilt das für die oppositionellen Grünen. Und auch die Nachfolger der einstigen DDR-Einheitspartei SED – die heutigen Linken – haben kein anderes Rezept. Ob nun ausgerechnet die CSU, schlimmstenfalls mit einem Ausscheiden aus dem Berliner Kabinett, den grossen Paukenschlag mit total ungewissem Ausgang für die Zukunft riskieren wird? Das ist kaum anzunehmen