Die moderne Hirnforschung hat durch die Informatik, die bildgebenden Verfahren und das bessere Verständnis der biochemischen Signalverarbeitung immer präzisere Einblicke in das menschliche Gehirn geben können. Uralte Fragen bekamen neue Dringlichkeit: Ist der Mensch frei? Ist er verantwortlich für seine Taten? Und, vielleicht am wichtigsten: Was sieht er wirklich, wenn er meint, die Welt zu sehen?
Die grosse Illusion
Grob vereinfacht lässt sich eine Diskussionslinie so beschreiben: Das Gehirn erzeugt die Illusion von Freiheit und Verantwortung und folgt dabei Mechanismen, die dem jeweiligen Träger verborgen bleiben. Der Träger des Gehirns unterliegt den gleichen Selbsttäuschungen wie ein Medienkonsument, der die Wahl zwischen Programmen mit Freiheit verwechselt – und die Medien mit der Welt.
Entsprechend falsch ist unser Menschenbild. Der Mensch ist nicht frei und nicht verantwortlich, sondern das Produkt hochkomplexer Verschaltungen und Abläufe. Und wenn er „ich“ sagt, ist das eine nette Konvention, aber leider gibt es im Gehirn dafür keine Instanz. „Das Ich ist eine unklare Adresse“, hat einmal der Hirnforscher Detlef. B. Linke konstatiert.
Am Anfang ist die Empathie
Eine andere Linie hat in den vergangenen Jahren eine positive Seite hervorgehoben und damit für Furore gesorgt. Demnach verfügt unsere biologische Wahrnehmungsausstattung über Rezeptoren, die einen unmittelbaren Zugang zu allem Lebendigen eröffnen: die Spiegelneuronen. Im Jahre 1995 hat sie der Italiener Giacomo Rizzolatti in einem Experiment mit Affen entdeckt. Wenn Affen die Bewegungen anderer Affen sehen, empfinden sie diese innerlich nach. Die damit verbundenen Erregungsmuster im Gehirn hat Rizzolatti als Erster sichtbar machen können.
Schnell wurden in der Folge ähnliche Muster und die entsprechenden Spiegelneuronen im menschlichen Gehirn ermittelt. Entsprechend befinden wir uns in einem unmittelbaren Austausch mit den Empfindungen anderer höherer Lebewesen. Empathie ist demnach primär. Und es gibt über die Spiegelneuronen einen Zugang zur Wirklichkeit, von denen die Erkenntnistheorie keine Ahnung hatte – von romantischen Intuitionen einmal abgesehen.
Ein neues Selbstverständnis
Der Bestsellerautor Jeremy Rifkin verkündete in einem Buch prompt den Anbruch der „Empathischen Zivilisation“. Im deutschsprachigem Raum darf in diesem Zusammenhang nicht Joachim Bauer vergessen werden, der weniger effekthascherisch als Rifkin das Wirken der Spiegelneuronen beschrieben hat. Auch seine Bücher können die Weltsicht der Leser verändern. Denn sie beschreiben Erfahrungen von unmittelbarer Nähe oder direktem emotionalem Verstehen nicht mehr als etwas Vages, das so oder auch anders sein könnte, sondern als reales Erleben, für das es im menschlichen Gehirn klar erkennbare Instanzen gibt. Wäre das Wort nicht so abgegriffen, könnte man von einer Revolution im Selbstverständnis sprechen.
Der Neurobiologe Gerald Hüther, der in Göttingen lehrt, formt aus den grundlegenden Fragen nach dem menschlichen Selbstverständnis, nach seiner Freiheit, seiner Empathie und seiner Entwicklungsfähigkeit Geschichten, die jeder nachvollziehen kann. Denn er beginnt nicht bei dieser oder jener Theorie, die mehr oder weniger richtig sein mag, sondern beim unmittelbaren Erleben. Jeder Mensch hat einen Körper, Gefühle, Geist – und eine Umwelt. Was geschieht in ihrem Zusammenspiel? Wie hätten wir uns wohl entwickelt, wenn wir in einer völlig anderen Umgebung aufgewachsen wären? Was ist gelungen, was gescheitert? Aus dem Buch spricht eine ganz ruhige Stimme, eine Stimme, die uns von dem erzählt, was wir erlebt oder auch erlitten haben.
Die martialischen Wächter
Am Anfang ist die Begeisterung. Sie entsteht, wenn Körper und Geist im Einklang die Welt entdecken und geniessen. Dieses Urgefühl des kleinen Kindes will sich fortsetzen, aber schon türmen sich Hindernisse auf. Der Wunsch, von der Umwelt verstanden und akzeptiert zu werden, kollidiert mit inneren Antrieben – und die Umwelt gewinnt. Und schon haben wir die Muster der Disziplin, der inneren Entleerung und des Leerlaufs. Aber er wird kaum noch bemerkt. - Hüther nennt das „die Anpassungsfalle“:
Freiheit besteht darin zu erkennen, dass die inneren Antriebe keine fremden Mächte – irgendwelche genetischen Prägungen – sind, sondern Potenziale, die uns aus den Zwängen herausführen können. Dafür gibt es allerdings eine sehr schwierige Voraussetzung: Wir müssen lernen, die Muster zu durchschauen, die uns bislang daran gehindert haben, ins Freie zu treten. „Diese sogenannten «Musterbrecher» sind leider selten, aber sie zeigen, dass es geht, und auch, wie es gehen kann: Indem eine Person Anteile in sich wiederentdeckt und weiterentwickelt, die im alten «Betriebsmodus» verdrängt, unterdrückt oder abgespalten waren. Dazu kann man nicht von aussen überredet, überzeugt, angeleitet oder unterrichtet werden.“ Vielmehr handelt es sich dabei um einen Erkundungsprozess, der Mut erfordert.
Denn man kann sich die Muster des „alten Betriebsmodus“ wie von martialischen Wächtern bewacht vorstellen. Der eine Wächter steht für die Sicherheit. Wird das Muster verändert, sinkt er dahin, und man weiss nicht, woher zukünftig der Schutz kommen soll. Der zweite Wächter sorgt dafür, dass das Muster nicht vom Energiefluss abgekoppelt wird. Denn das Gehirn funktioniert so, dass es das am besten kann, was es am häufigsten gemacht hat, und daher das am liebsten macht, was es am besten kann.
Unheilige Allianzen
Aber da ist auch viel Leerlauf, weil nur ein kleiner Teil des Menschen wirklich beteiligt ist. Wehe, wenn Neues entdeckt wird! Wenn zum Beispiel der Büromensch eines Tages von dem Gefühl durchdrungen wird, dass er nur dann wirklich lebt, wenn auch sein Körper mit allen Sinnen daran teilhat. Das ist, wie wenn aus ferner Kindheit ein Glücksgefühl erinnert wird, das damit zu tun hatte, dass Körper und Geist mit der Umwelt in einer Einheit verschmolzen waren. Wer das Neue-Alte in sich wiederfindet und in sich wachruft, passt nicht mehr in die Schemata, in die er sich früher mangels besseren Fühlens eingefügt hatte.
Gerald Hüther ist ein Wissenschaftler, der hochkomplexe Sachverhalte in einfache Bilder und Geschichten kleidet. Deswegen ist sein Buch ein Glücksfall. Unaufdringlich schildert er immer wieder die Wechselwirkungen zwischen Umwelt, Tun und Erleben mit dem Gehirn. An vielen Beispielen macht er klar, wie aus scheinbar beiläufigen Abfolgen im Gehirn Verschaltungen entstehen, die sich nur noch schwer korrigieren oder auflösen lassen. Und er zeigt, wie tief verankert die Widerstände in der Gesellschaft verankert sind. So schildert er, wie dank neuer Zugänge Kinder mit dem sogenannten Down-Sydrom inzwischen sogar zum Abitur geführt werden können – und wie Lehrer in Panik gerieten, als er ihnen davon berichtete.
Das Gehirn ist formbarer, als wir dachten, und letzten Endes auch die Gesellschaft – aber beide bilden miteinander feste Strukturen, um nicht zu sagen: unheilige Allianzen. Das Interessante an Hüthers Buch ist, wie er die verhängnisvollen Wechselwirkungen auf neurobiologischer Grundlage schildert und Auswege beschreibt. Und er belässt es nicht dabei. Als Präsident der Sinn-Stiftung engagiert er sich für Initiativen und auch den Laien zugänglichen Plattformen zur Nutzung der neuen Einsichten in das menschliche Gehirn.
Gerald Hüther, Was wir sind und was wir sein könnten. Ein neurobiologischer Mutmacher, S. Fischer Verlag, Frankfurt/M 2011