Die Renaissance wird ja oft als jene Zeit beschrieben, in der das Individuum „entdeckt“ wurde, am augenfällig¬sten in der schöpferischen Individualität des Künstlers. Die Identifizierung des Individuums erschien zunehmend wichtiger, und dazu brauchte es Porträts. Dabei begann man auch Porträts zu reproduzieren, das heisst, Bilder von Personen zu fertigen, die gar nicht anwesend waren.
Jedem seine Marke
Künstler mahnten deshalb, durch Kunstfertigkeit liesse sich das Äussere des Menschen manipulieren, um nicht zu sagen verfälschen. Deshalb seien Porträts nicht geeignet, zwischen Wahrheit und Täuschung, Gesicht und Maske zu unterscheiden. Jedes Porträt erwiese sich im Grunde immer auch als Pose, Idealisierung, Simulation.
Ein zweites Phänomen, aus derselben Zeit, als sich der Handel in Europa auszubreiten begann: Im Mittelalter gab es die Meistermarken. Das waren sozusagen die Qualitätssiegel der hergestellten Produkte, für die der Handwerksmeister oder die Zunft garantierte. Ort der Begutachtung und Kennzeichnung der verschiedenen Qualitäten waren die sogenannten Schauen, wo der jeweilige Meister das mit seinem Zeichen als Urhebernachweis gekennzeichnete vollendete Werk vorlegte.
Als im ausgehenden Mittelalter bestimmte Kaufleutefamilien Bedeutung und Macht im überregionalen Handel gewannen, wurden die Waren mit Hausmarken versehen. So etwa bei den Fuggern und den Welsern. Auch Künstler wie Michelangelo oder Hans Sachs erfanden ihre persönlichen „Logos“, welche die die Originalität ihrer Werke gewährleisten sollten.
Frisur, Parfüm, Piercing
Menschen haben ein mehr oder weniger ausgeprägtes Bedürfnis, jemand zu sein. Eine Person eben. Etwas Unverwechselbares. Dazu gibt es die erwähnten zwei Grundmittel Maske und Marke. Um jemand zu sein, muss ich mich maskieren, eine Rolle spielen; und um jemand zu sein, muss ich mich selber oder das, was ich hervorbringe, markieren. Was tut man, um sich zu markieren?
Nun, man bearbeitet zum Beispiel seinen Körper, unsere natürliche Mitgift. Was man ist, manifestiert sich an den Markierungen, die man sich selbst, d.h. seinem Körper, penibel zufügt. Von der Frisur, dem Parfüm, der Textilien, über Gestik und Mimik bis zu lederhartem Bauch, Tatoo, Piercing oder der chirurgischen Modifikation eines Körperteils trägt man heute buchstäblich Körper. Man traktiert ihn, richtet ihn zu: Er wird getrimmt, gedrillt, gestrafft, geliftet, geschnipselt, gestochen, geritzt, gespritzt, gedopt, gebrannt.
Hinzu kommen die Bedingungen einer Selbstdarstellungsökonomie, die solches Zurichten und Haut-zu-Markte-tragen nachgerade als Überlebensmittel erscheinen lassen. Der Körper ist Vermögen, Kapitalanlage. Er ist nicht mehr Schicksal, nicht mehr „Natur“. Vielmehr nimmt der Mensch jetzt sein Schicksal in Gestalt seines Körpers selbst in die Hand. Er macht ihn zur Bühne, um nicht zu sagen: zur Kampfstätte immer feinerer sozialer Unterscheidungen.
Kleider und Branding machen Leute
Spätestens seit Gottfried Kellers Novelle wissen wir, dass Kleider Leute machen. Heute wissen wir, dass das bereits die Marke tun kann. Man trägt nicht Unterhosen, man trägt Calvin Klein; nicht Schuhe, sondern Nike, nicht einen Pullover, sondern Abercrombie&Fitch. Die wachsende Bedeutung des Branding wider¬spiegelt ein neues Stadium des Kapitalismus, den Übergang von „harten“, materiellen zu „weichen“, immateriellen Gütern.
Nach wie vor werden selbstverständlich harte Güter produziert – von unseren unschuldigen Konsumentenaugen abgeschirmt in Sweatshops der Drittweltländer. Aber die „weichen“ Kommu¬nikationstechnologien und das Internet führen zu einer neuartigen immateriellen Öko¬nomie mit einem Markt, auf dem die symbo¬lische (Re-) Präsentation – das Maskieren und Markieren - zusehends wichtiger und mäch¬tiger wird.
Das Paradox des Branding
Wir stossen hier auf ein Paradox. Branding ist ja im Grunde ein harmloser und einleuchtender Vorgang. Man klatscht ein Symbol, ein Logo auf ein Produkt, und will damit von ihm sagen: Es ist anders, es ist besonders, es ist besser als andere! Dadurch schafft man einen Unterschied, eine Produktidentität. Nun gleichen sich allerdings die Massenprodukte immer mehr. Ein Waschmittel wäscht so gut wie jedes andere, die Jeanshosen der meisten Marken werden aus ein- und demselben Denimstoff gefertigt. Das Unterscheiden wird umso nötiger, je mehr das Angebot an ähnlicher Ware wächst.
Und hier wird das Paradox offensichtlich: Wo alles besser als alles andere ist, muss eine weitere Unterscheidung getroffen werden: Ein Bestes muss her. Dann ein Super-, Mega-, Gigabestes usw. Und je häufiger und schriller die sich selbst überbietenden Superlative, desto ununterscheidbarer werden sie. „Making a Difference“ schafft die Differenzen ab.
Maske und Gesicht
Wir lernen schon von klein auf, uns darzustellen, eine Rolle zu spielen, uns selbst als dies oder das zu erfinden. Eine Maske ausprobieren: das ist der natürliche Vorgang des Heranswachsens und Hineinwachsens in ein soziales Netz. In traditionellen afrikanischen Gemeinschaften z.B. bedeutet eine Person zu sein, das Recht auf eine bestimmte Rolle zu haben. Wir verbinden heute mit dem Wort Maske gewöhnlich negative Vorstellungen. Eine Maske verhüllt das Gesicht. Eine Person erkennen wir an ihrem Gesicht, und das Gesicht ist ja auch das, was wir in unserer Kultur als ein Wesensmerkmal des Individuums betrachten.
Wir empfinden in der Regel Person (Gesicht) und Maske als Gegensatz zwischen echtem und unechtem Selbst. Sein und Schein. „Es ist nicht leicht, so schön zu sein, wie man aussieht,“ sagte die Schauspielerin Sharon Stone einmal. Das ist eine ziemlich hintergründige Aussage. Ich sehe so und so aus, aber bin ich der, der so und so aussieht? Wer bin ich eigentlich? Und: Ist dieses „Ich“ immer das gleiche?
Das „echte“ Selbst
Aber was ist das: das „wahre“ Gesicht, das „echte“ Selbst? Gibt es das überhaupt? Könnte es nicht sein, dass sich unter der Maske einfach wieder eine Maske verbirgt, und so weiter ad infinitum. Das ist eine ganz unheimliche, zutiefst verstörende Vorstellung: Wir möchten zu unserem „wahren“ Selbst vordringen und stossen stets nur auf Hüllen. Man kann Leute auf diese Weise in den Wahnsinn treiben. Früher war es die Seele, die der Person quasi ihren unverwechselbaren gottgegebenen Wesenskern garantierte. Aber daran zweifeln heute nicht wenige.
Wir leben in einer säkularen Gesellschaft, hört man. Die Psychoanalyse und neuerdings die Hirnforschung haben uns die Seele ausgetrieben. Man braucht gar keine Seele. Wir sind aufgeklärt. Früher – etwas vereinfacht gesagt – gaben Familie, Schule, Kirche, Beruf vor, wer man ist. Heute ist das soziale Netz viel offener, dadurch auch riskanter. Für viele jungen Menschen haben Familie, Schule, Kirche nicht mehr die traditionelle Verbindlichkeit für ihre Identitätsfindung. Man sucht Identiät über die soziale Performance und flüchtige Zugehörigkeit: zur Firma, zum Fanclub, zum Facebook-Freundeskreis. War das Ich früher durch die Tradition bestimmt, wird es jetzt zur verwirrenden Option.
Reale und virtuelle Freundschaften
Simulation gehört zum Personsein. Ein spielerisches Umgehen mit sich und seiner Rolle – ein Sich-erfinden, um sich zu finden - ist für Heranwachsende äusserst wichtig. Aber als für die Adoleszenz ebenso entscheidend erweist sich die Reibung am Andern. Jemandem die Meinung ins Gesicht sagen ist viel schwieriger als ein SMS schicken. Virtuelle Freundschaften pflegt man leicht, man kann sie anklicken und wieder wegklicken. Reale Freundschaft dagegen ist eine der härtesten Sachen der Welt. Friendship is Hardship. Man muss umgehen lernen mit Intimität und Distanz, mit Kompromiss und Selbstbehauptung, mit Sich-Öffnen und Sich-Abschliessen. Je mehr Freunde elektronisch anwesend sind, desto weniger anwesend sind sie.
Das Glatte, Leichte, Schnelle des virtuellen Miteinanders täuschen darüber hinweg, dass wir gerade in den zwischenmenschlichen Beziehungen die Werkzeuge zur Verfügung haben, unsere sozialen Kompetenzen zu „härten“ und zu schleifen. Technologie, die sich anschickt, den Heranwachsenden von den elementaren Schritten zur sozialen Reife zu „entlasten“, macht das soziale Leben unverbindlich und unwirklich. Eine Gemeinschaft, die lediglich auf Partizipation ohne physische und persönliche Präsenz setzt, ist eine Phantom-Gesell¬schaft.
Personwerden ist nicht Branding
Es gibt kein Patentrezept, wie man vom Massen-Ego zum Mass-Ego wird. Marken und Masken können durchaus helfen. Kleider können Leute machen. Aber es geht auch umgekehrt: Leute machen Kleider. Es gibt junge Menschen, die durchstöbern Brockenstuben und Flohmärkte, um aus alten Klamotten ihre eigenen Kleider zu gestalten. Was sie dazu brauchen ist Zeit, Geduld, Geschicklichkeit, Phantasie. Sie investieren Zeit in etwas, von dem sie dann wirklich sagen können: das ist Teil von mir.
Eine Person sein heisst, eine Geschichte haben, seine eigene Geschichte. Und seine Geschichte kann man nicht kaufen. Man muss sie erleben, durchleben. Es gibt heute ein ungeheures Angebot an „Personen“. Und sie alle haben etwas unheimlich Vampirisches: Sie versuchen, aus uns unsere Geschichte, unsere Persönlichkeit zu saugen. Sie versprechen uns, jemand zu werden, dabei machen sie aus uns Nobodies. Am Ende wird das Branding seine Herkunft aus der Viehhaltung verraten. – dem Brandmarken. Man lässt sich ein Zeichen einbrennen und gehört zur grossen globalen Herde der konsumfrommen identitätslosen Schafe.