Die Dokumentarfilmerin und Autorin Marianne Pletscher porträtiert Migrantinnen und Migranten, die in der Reinigungsbranche arbeiten. Zusammen mit vielen ausdrucksstarken Fotos von Marc Bachmann gelingen eindringliche Lebens- und Arbeitsgeschichten von Menschen, die meist als Asylsuchende oder über Familiennachzug in die Schweiz kamen und heute zu den fast 200’000 Personen gehören, die Schweizer Strassen, Büros, Klassenzimmer und Privatwohnungen sauber halten.
Tezcan K. ist Strassenreiniger in der Stadt Basel, seit 25 Jahren. Es war von Anfang an und bleibt bis heute sein «Traumjob». Putzen liege ihm, sagt der Kurde, er brauche Ordnung im Leben. Er liebe die Arbeit an der frischen Luft, oft singt und lacht er dabei mit seinen Kollegen. Er freue sich über das Resultat seiner Arbeit – eine saubere Strasse. Nichts ärgert ihn mehr als achtlos weggeworfene Corona-Masken! Zudem lasse sich beim Strassenwischen besonders gut denken. Und er denke eben philosophisch, wie Kant: man müsse seine Arbeit und seine Pflicht lieben. In seiner Freizeit ist Tezcan K. auch schon mal türkisch sprechender Schauspieler und Radiomoderator, und er hat eigene Aphorismen veröffentlicht, ebenfalls in türkischer Sprache und im Selbstverlag, unter dem Titel «Was findet mein Besen beim Putzen?».
Die Herkunftsländer der Putzkräfte
Man kommt ins Staunen und ins Nachdenken beim Lesen der 10 Porträts, vier Männer und sechs Frauen, die die Dokumentarfilmerin und Autorin Marianne Pletscher unter dem Titel «Wer putzt die Schweiz?» versammelt. Alle erzählen sie ausführlich aus ihrer Lebens-, Arbeits- und Fluchtgeschichte, dazu zeigt sie der Fotograf Marc Bachmann in grosszügigen Bildstrecken bei ihrer Arbeit. Mit Bedacht hat die Autorin Migrantinnen und Migranten aus den zurzeit wichtigsten Herkunftsländern von Arbeitsmigranten und Geflüchteten in der Schweiz gewählt: Nebst Italien und Portugal sind dies Bosnien und Kosovo, Eritrea, Somalia und Sri Lanka. Fast alle sind via Familiennachzug oder auf dem Asylweg in die Schweiz gelangt, wo sie auf Grund ihrer mangelhaften Sprachkenntnisse und Bildung, fast ausschliesslich in der Reinigungsbranche Arbeit finden: Heute gibt es in der Schweiz 5500 Reinigungsfirmen, die, zusammen mit zehntausenden Privathaushalten rund 200’000 Menschen beschäftigen.
Ob schon lange in der Schweiz und erfolgreich, wie Rosa T. aus Portugal, die nebst Deutsch und Französisch akzentfrei Dialekt spricht und nach vielen Sprach- und Weiterbildungskursen in der obersten Liga der Reinigungsbranche angekommen ist: Sie ist Hauswartin an einer Kantonsschule in Zürich. Ob immer noch mit Wörtern wie «Schüfeli und Bäseli» kämpfend, wie die strahlende Fartun H. D. aus Somalia, eine Halb-Analphabetin, die in ihrer Heimat nur zwei Jahre eine Schule besucht hat und die der Autorin mit Hilfe einer Übersetzerin und Google-translate ihren höchst verschlungenen Fluchtweg über Saudi Arabien zu erzählen versucht. Oder ob als illegale Papierlose in der Schweiz, wie die 64-jährige Anna A. aus Lateinamerika, die seit 21 Jahren in Haushalten, Büros und Restaurants putzt, um ihre Familie daheim zu unterhalten: Alle diese Menschen putzen gerne. Sie fühlen sich als Profis, ob mit oder ohne jene gründlichen Reinigungskurse, die in diesem Buch ausführlich zur Sprache kommen, weil sie den Teilnehmenden zu besseren Chancen auf dem Arbeitsmarkt verhelfen. Sie suchen und schätzen Anerkennung, faire Behandlung und eine freundliche Atmosphäre mindestens ebenso wie das Geld, das ihnen die unabhängige Existenz ermöglicht – nur nicht von Sozialhilfe abhängig sein oder werden wünschen sich die meisten.
Wenn dann auch noch der 70-jährige Yohara A., der einst Schuldirektor in Sri Lanka war und sich lebenslang als Intellektueller gegen das Kastenwesen der Tamilen engagiert, erklärt, jene Jahre als er in Restaurants putzte, sei seine kreativste Phase in der Schweiz gewesen, weil er beim Putzen seinen Gedanken nachhängen konnte – dann ist das natürlich geradezu wunderbar zu lesen und entlastet ganz nebenbei erst noch vom schlechten Gewissen einer privilegierten Schweizer Arbeitgeberin.
Die Frage nach dem Sinn des Lebens
Doch fällt die Auswahl dieser 10 von 200’000 Menschen nicht etwas gar einseitig zum Positiven aus? Marianne Pletscher erklärt das Phänomen damit, dass sie allesamt Personen porträtiert, die für öffentliche Arbeitgeber arbeiten oder über Vermittlung von sozial engagierten Firmen (diese werden im Anhang vorgestellt) und die damit besonders fair behandelt und bezahlt werden. Diese Auswahl ergab sich, weil Personen aus privatwirtschaftlichen Reinigungsfirmen ihre Interview-Anfrage ablehnten: keinesfalls sollten Chefs oder Kollegen von ihrer Geschichte erfahren, und schon gar nicht wollten sie fotografiert werden. Absagen also, die bereits wieder eine Geschichte erzählen.
Ein etwas abgehobener literarischer Text der bosnischen Schriftstellerin Dragica Rajcic Holzner, höchst ergiebige «Notizen zur Geschichte und Gegenwart des Putzens … » der Autorin selbst sowie ein ausführlicher Informationsteil zu den aktuellen gesetzlichen Regelungen und zu fairen Projekten ergänzen den Band zu einem emotional berührenden und rundum reichhaltigen Buch.
Was findet mein Besen beim Putzen? Gerne würde man es von Tezcan K. erfahren. Sicherlich gleicht es der Antwort jenes Zen-Meisters auf die Frage nach dem Sinn des Lebens (die der Anwalt Marc Spescha im Vorwort zitiert): «Nimm den Besen und wisch den Hof».
Marianne Pletscher/Marc Bachmann: Wer putzt die Schweiz? Migrationsgeschichten mit Stolz und Sprühwischer. Limmat Verlag 2022. 253 Seiten, Fr. 42.90