Da wir es nicht schaffen, dem kleinen Blutsauger den Meister zu zeigen, stellt sich die Frage, wie es denn um die angebliche Überlegenheit unserer Spezies steht. Ist menschliche Intelligenz etwa gar ein Luxusprodukt der Natur?
Betrachten wir ein Exemplar aus der «unteren» Stufe der Evolution: die Bettwanze. Sie steht auf den Menschen wegen seines Bluts, Geruchs und Atems (Kohlendioxid). Sie ist ein kleines, flaches Insekt und kann sich an Orten verstecken, wo wir sie nicht vermuten. Die obligate Bibel in amerikanischen Hotels hält sie für sehr wohnlich. Im frommen Dunkel der Buchseiten lauern ganze Blutsaugerpopulationen. Ihr kognitiver Apparat ist dazu entworfen, herauszufinden, wann wir am verletzlichsten sind. Bettwanzen lernen unsere Agenda. Wenn wir nachts arbeiten und während des Tages schlafen, passen sie sich dem Rhythmus an. Wenn wir in die Ferien verreisen, warten sie – man müsste fast schon von einer sprichwörtlichen «Wanzengeduld» sprechen –, bis wir zurückkehren.
Zu intelligent, um ausgerottet zu werden
Sie trotzen dem massiven Einsatz von Insektiziden. Nach dem Zweiten Weltkrieg bekämpfte man Bettwanzen erfolgreich mit DDT – einem Spitzenprodukt der Chemie, also menschlicher Intelligenz. Bis 1990 galten die Bettwanzen als nahezu ausgerottet. Während der Mensch seine Siegesrunde lief, begannen sich DDT-resistente Stämme von Gliederfüsslern nach und nach zu sammeln und zu vermehren und sie bevölkern heute weite Teile des «zivilisierten» Planeten. Was der Mensch auch an komplexen Instrumenten ausklamüsert, das «subkomplexe» Tierchen stellt ihn vor immer neue Herausforderungen.
Hinzu kommt etwas Weiteres: Die Brute-Force-Methode des Insektizideinsatzes stellte sich als retroaktiv heraus. Die Chemikalie wird zwar nicht mehr im Haushalt verwendet, aber sie hat im Wasser eine biologische Halbwertszeit von 150 Jahren. Das DDT auf den Wänden und Böden, die man in den 1950er-Jahren besprühte, geriet in die Abwasserkanäle oder direkt in Flüsse, Seen, Meere, «infizierte» also die Ökologie, zumal die aquatische Fauna. Mit dem Fisch kamen Restspuren organischen Schadstoffs auf den Teller. Er kann, wie Biologen betonen, zu Veränderungen des Genoms führen. Kurzum: Der Mensch war ausgezogen, die Bettwanze zu vergiften, nun vergiftet er sich selbst. Ein Paradebeispiel von Dummheit.
Menschliche Spezies-Arroganz
Zeigt uns die Bettwanzenintelligenz die Grenzen menschlicher Intelligenz auf? Das wäre ein vorschneller Schluss. Aber das Beispiel akzentuiert ein anderes, allgemeineres Problem: die typisch menschliche Spezies-Arroganz. Wir betrachten unsere Intelligenz als einzigartiges Produkt der Evolution und leiten daraus eine entsprechend singuläre Stellung in der Natur, ja, im Universum ab. Welche Spezies hat denn kognitive Fähigkeiten ausgebildet, die zu Wissenschaft, Mathematik, Technik, Medizin, Literatur, Philosophie, Religion, Kunst führten? Die Frage verfängt sich in einem Zirkel, denn sie setzt das voraus, was zu beweisen wäre. Ihr Blick ist «provinziell», nämlich anthropozentrisch. Dabei bietet uns die Evolution der Spezies eine immens reiche Topographie ganz anderer Formen von Intelligenz dar. Doch sind es niedrigere?
Auch diese Frage verrät Voreingenommenheit. «Niedrig» ist ein perspektivischer Begriff. Wer stellt denn die Skala auf, wenn nicht wiederum der Mensch? Es gibt keine extra-evolutionäre, objektive Perspektive des Spezies-Ratings. Gewiss, es gibt eine Evolution der menschlichen Intelligenz, von den Prähominiden bis zum gegenwärtigen Homo sapiens. Sie erfolgte ziemlich stetig und hat sich, so scheint es, enorm viel Zeit gelassen.
Das menschliche Gehirn – ein «barockes» Organ
Man spricht zwar von einem «grossen Sprung» in der Entwicklung zwischen Homo sapiens und seinen Vorformen. Aber noch heute bewältigt ein biologischer Apparat wie unser Gehirn eine Unmenge an Informationen im Ur-Modus, in dem wir nicht in einen «höheren Denkgang» schalten müssen, sondern einfach die Automatismen unserer neuronalen Schaltkreise – das Unbewusste – arbeiten lassen.
Offenbar sind die Kosten für Intelligenzleistungen hoch. Unser Gehirn verbraucht etwa 20 Prozent der dem Körper zugeführten Energie, um die biochemischen und elektrophysiologischen Kalkulationen im neuronalen Netz in Gang zu halten. Und man kann sich fragen, ob ein solches «barockes» Organ nicht ein luxuriöser Überfluss der Natur sei. Trägt es wirklich zu unserer Fitness bei? Erscheint es aus der Perspektive einer evolutionären Kosten-Nutzen-Rechnung nicht dumm, so intelligent wie wir zu sein?
Sind wir intelligent genug, um tierliche Intelligenz zu begreifen?
Es geht nicht darum, der menschlichen Intelligenz ein schlechtes Zeugnis auszustellen. Es geht darum, ihr einen «angemessenen» Platz in der Scala naturae zuzuweisen. Was wissen wir eigentlich über die anderen Arten? Recht wenig. Karl von Frisch, ein Pionier der Ethologie, bezeichnete das Verhalten von Honigbienen einmal als «magische Quelle»: Je mehr man ihr entnimmt, desto mehr gibt es zu entdecken. Und so verhält es sich wohl allgemein bei den Tieren: Sie übersteigen eine vollständige wissenschaftliche Erklärung; sie sind biologische Transzendenzen. Einer der renommiertesten gegenwärtigen Verhaltensforscher – Frans de Waal – fragte im Titel eines seiner Bücher denn auch geradewegs: «Are We Smart Enough To Know How Smart Animals Are?» ( 2016).
Gewiss, Schimpansen schreiben keine Sonette, und Wale komponieren keine Sonaten. Sollten sie das? Die Fähigkeiten, die wir bei anderen Spezies untersuchen, sind ja vom Menschen her definiert. Aber kennen wir Menschen denn all die Subtilitäten etwa der Kommunikation unter Schimpansen und Walen? Wie will man herausfinden, was andere Spezies können, wenn man davon ausgeht, was sie nicht können? De Waals Sarkasmus ist berechtigt, wenn er von einer Forschung spricht, «die sich mehr an kognitiven Defiziten anderer Spezies begeistert als an ihren Fähigkeiten».
Nietzsche hat die Tiere um ihr Glück beneidet, vor dem beim Menschen seine Intelligenz stehe. «Betrachte die Herde, die an dir vorüberweidet: sie weiss nicht, was Gestern, was Heute ist, springt umher, frisst, ruht, verdaut, springt wieder, und so vom Morgen bis zur Nacht und von Tage zu Tage, kurz angebunden mit ihrer Lust und Unlust, nämlich an den Pflock des Augenblicks, und deshalb weder schwermütig noch überdrüssig. Dies zu sehen geht dem Menschen hart ein, weil er seines Menschentums sich vor dem Tiere brüstet und doch nach seinem Glücke eifersüchtig hinblickt – denn das will er allein, gleich dem Tiere weder überdrüssig noch unter Schmerzen leben, und will es doch vergebens, weil er es nicht will wie das Tier.»
Ein «Nebenprodukt» echter Anpassung?
Hier spricht natürlich der durchgeknallte Zivilisationsverächter. Das Glück der Tiere also das Glück ihrer Unterkomplexität? Die Bettwanze hat ihren artspezifischen kognitiven Apparat, und sie meistert ihre Umweltprobleme auf eine oft erstaunliche Weise, ohne über die Komplexität der menschlichen kognitiven Ausstattung zu verfügen.
Ist Komplexität überhaupt das ausschlaggebende Merkmal? Wenn wir die Geschichte unserer Spezies betrachten – die Katastrophen, Krisen, Kriege, zu denen das komplexe Organ Gehirn geführt hat –, dann wächst der Zweifel. Womöglich ist dieses überreizte, überzüchtete Spätprodukt der Evolution bloss eine erratische Verzierung. «Spandrel» hat es der bekannte Evolutionsbiologe Stephen Jay Gould genannt. Der Begriff Spandrille stammt aus der Architektur, wo er eine dekorierte Fläche zwischen einem Rundbogen und seiner rechteckigen Umrandung bezeichnet. Gould bezeichnete damit phänotypische Merkmale, die im Laufe der Evolution als Nebenprodukte echter Anpassung entstanden sind. Das Urteil steht noch aus, ob der Mensch mit seiner Intelligenz als «Nebenprodukt» der Evolution Bestand hat.
Anthropozän – eine eklatante Anmassung
Und dabei sprechen wir heute vom Anthropozän, der vom Menschen geprägten neuen erdgeschichtlichen Epoche. Auch das ist im Grunde eine eklatante Anmassung, nicht zuletzt in Anbetracht der Tatsache, dass der Mensch nicht einmal mit der Bettwanze fertig wird. Gewiss, das kleine Tier ist eine Plage. Aber zugleich eine Lektion: Die Natur kennt keine Hierarchie der Arten. Superkomplex oder subkomplex – einerlei: man schlägt sich durch, so gut wie’s geht. Jede Art auf ihre Art. Parasit oder nicht? Man ist immer jemandes Parasit.
Das ist kein sentimentaler Aufruf zu einer planetarischen «Ökumene» der Lebewesen. Eher ein Appell gegen die exzeptionalistische Lobhudelei, wie sie ein anderer Philosoph, Arnold Gehlen, angestimmt hat: Der Mensch sei «ein ganz einmaliger, sonst nicht versuchter Gesamtentwurf der Natur (…) Die Welt, in der der Mensch lebt, ist eine zweite Natur, die er sich schafft –, aber in dieser Leistung wird er notwendig sein eigenes Thema und er ist so beschaffen, dass er immerfort an sich selbst Aufgaben findet, deren Lösung zugleich ein Fortschritt in der Welt ist».
Verabschieden wir endlich dieses Selbstbild. Was uns wirklich intelligent macht, ist die Einsicht in die Beschränktheit unserer Lösungen.