Anne Applebaum, diesjährige Trägerin des Friedenspreises des deutschen Buchhandels, zeigt in ihrem neuen Buch eindrücklich, wie Autokratien funktionieren und sich durch Veränderung von Grundsätzen der Staatengemeinschaft gegen Kritik immunisieren.
Die amerikanisch-polnische Historikerin und Journalistin setzt sich als ausgewiesene Kennerin der osteuropäischen Geschichte seit zwanzig Jahren mit Autokratie auseinander. Ihr Buch «Achse der Autokraten» entwickelt eine neue Sicht dieses Phänomens, die im englischen Originaltitel «Autocracy, Inc.» (etwa: Autokratie GmbH) präziser umschrieben ist als in der deutschen Übersetzung.
An kritischen Darstellungen von Autokraten und ihren Regimen hat es nie gefehlt. Sie werden in historischen oder politologischen Studien untersucht, und der politische Journalismus leuchtet, wenn er seinen Ansprüchen genügen will, stets auch Mechanismen von Unfreiheit und Zwangsherrschaft aus. Anne Applebaum tut das auch, und zwar in beeindruckender Breite und Vielschichtigkeit. Was bei ihr als Besonderheit hinzukommt, ist ein systemisches Verständnis des Phänomens. Das bedeutet, dass in ihrer Analyse nicht nur die Verschiedenheiten der diversen Autokratien zur Geltung kommen, sondern auch die Ähnlichkeiten und – dies der eigentliche Clou ihrer Studie – die globale Vernetzung, mit der sich grosse, mittlere und kleine autokratische Regime gegenseitig stützen.
Rund fünfzig Fälle von Autokratie
Applebaum spricht von etwa fünfzig autokratisch regierten Ländern, darunter insbesondere Russland, China, Iran, Nordkorea, Venezuela, Nicaragua, Angola, Myanmar, Kuba, Syrien (das sich nun hoffentlich aus dieser Liste verabschiedet), Simbabwe, Mali, Belarus, Sudan und Aserbaidschan. Ihnen ist gemein, dass die Herrschenden jede Form von Partizipation, Transparenz und Rechenschaft verweigern und Kritiker im In- und Ausland verfolgen. Ausserdem schanzen sie sich selbst grossen Reichtum zu und halten ihre Gefolgsleute mit Lizenzen zu Korruption und Kleptokratie bei der Stange. Ideologien sind nach Applebaums Einschätzung sekundär; an erster Stelle steht immer der Machterhalt. Diesem obersten Ziel ist das gesamte staatliche und politische Handeln untergeordnet.
Hartgesottene Autokraten leben mit dem Gefühl, nicht nur in ihren Ländern unantastbar, sondern auch von Meinungen der Weltöffentlichkeit völlig unabhängig zu sein. Das Bemühen etwa der damaligen Sowjetunion, sich als honoriges Mitglied der Staatengemeinschaft zu geben, kennt ein Putin nicht mehr. Er hat es aus seiner Sicht nicht nötig.
Anne Applebaum konstatiert: «Inzwischen ist es den Mitgliedern der Achse der Autokraten gleichgültig, ob ihre Länder kritisiert werden. Einige, wie die Führer von Myanmar oder Simbabwe, stehen für nichts anderes als Selbstbereicherung und Machterhalt – man kann sie nicht beschämen. Die religiösen Führer des Iran verwahren sich selbstbewusst gegen jegliche Äusserung von Ungläubigen aus dem Westen. Die Regime von Kuba und Venezuela behandeln Kritik aus dem Ausland als Beleg für eine gewaltige imperialistische Verschwörung. Die Führungen Chinas und Russlands fechten seit einem Jahrzehnt die Menschenrechtsforderungen internationaler Einrichtungen an und haben auf diese Weise viele Menschen in aller Welt überzeugt, dass es sich bei den Abkommen zu Krieg oder Völkermord oder Vorstellungen wie ‘bürgerliche Freiheiten’ und ‘Rechtsstaatlichkeit’ um westliche Konstrukte handle, die in ihren Ländern keine Anwendung fänden.»
Feindbilder und neue Sprachregelungen
Das «Geschäftsmodell» der modernen Autokratien stabilisiert sich selbst mit der Konstruktion eines unverrückbaren Feindbildes: Die demokratische Welt, das Wertegerüst der Menschenrechte, die Idee regelbasierter internationaler Beziehungen – dies alles wird in eine Attacke des Westens umgedeutet, der man in souveräner Standhaftigkeit entgegentreten muss. Und zwar auch gemeinsam, indem die solchermassen Attackierten einander aushelfen, sei es durch die Umgehung internationaler Sanktionen, sei es durch propagandistischen Sukkurs.
Mittels neuer Sprachregelungen arbeiten Autokratien ausserdem daran, Grundsätze der Staatengemeinschaft nach eigenem Bedarf zu formatieren. So konterkariert China den Menschenrechtsdiskurs regelmässig, indem es für alle Staaten ein «Recht auf eigene Entwicklung» einfordert. Ein wichtiges Stichwort dafür ist «Souveränität» – ein positiv formulierter Ersatz für den früher oft bemühten «Grundsatz der Nichteinmischung». Auch von «Win-win-Kooperationen» und von «Respekt» spricht die chinesische Diplomatie gern.
Mit dem Begriff «Multipolarität», der eigentlich eine Abkehr von hegemonialen Verhältnissen bezeichnet, haben Autokraten ein weiteres Tool in ihren Werkzeugkästen. Sie nutzen dieses Label zur Distanzierung von angeblich westlichen Grundsätzen wie Menschenrechten oder Rechtsstaatlichkeit.
Autokratien sehen sich weder auf der Anklagebank noch in der Defensive. Dennoch betreiben sie einen riesigen Aufwand, um ihrem gewalttätigen politischen Modell nach innen und aussen den Anschein von Normalität zu geben. Und weil das einfacher ist, wenn man nicht allein dasteht, halten die mittlerweile zahlreichen Autokraten gegen den selbst erkorenen Feind zusammen und bilden agile globale Netzwerke. Bevor man sich dadurch beeindrucken lässt, ruft man sich besser in Erinnerung, dass das ganze Theater einem einzigen simplen Zweck dient: dem stets gefährdeten (Syrien hat es mal wieder gezeigt) Erhalt der eigenen Macht.
Anne Applebaum: Die Achse der Autokraten. Korruption, Kontrolle, Propaganda: Wie Diktatoren sich gegenseitig an der Macht halten. Siedler 2024, 206 S.