Meinrad Inglins Roman „Schweizerspiegel“ erschien erst zwanzig Jahre nach Kriegsende und kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs. Er setzt ein mit dem Manöverbesuch Kaiser Wilhelms II. vom September 1912 in der Schweiz, und er endet mit dem Abbruch des Landesstreiks in der Nacht auf den 14. November 1918
Mann des Fortschritts
Als der „Schweizerspiegel“ herauskam, war sein Verfasser 45 Jahre alt und hatte sich bereits mit Werken wie „Die Welt in Ingoldau“ und „Grand Hotel Excelsior“ einen Namen gemacht. Wie so viele Bücher Inglins trägt auch der „Schweizerspiegel“ deutlich autobiografische Züge und stützt sich im Besonderen auf die Erfahrungen, die der Autor im Aktivdienst zwischen 1914 und 1918 als Korporal und Leutnant gemacht hat.
Im Mittelpunkt der Handlung steht die angesehene Familie des Nationalrats und Obersten Alfred Ammann. Er repräsentiert das gehobene Zürcher Bürgertum und verfügt über beste, zum Teil verwandtschaftliche Beziehungen zu hochgestellten Politikern und Militärs. „Er war ein Mann seiner Zeit“, schreibt Inglin, „ein Mann des Fortschritts, der Entwicklung, ein Demokrat.“
Selbstsüchtiges Bürgertum
Aber zugleich wird deutlich, dass der Liberalismus, den diese Figur verkörpert, im Grossbürgertum die politisch führende Schicht sieht und dem gesellschaftlichen Wandel wenig Verständnis entgegenbringt. Ammann ist, wie sich in einer Rede zeigt, die er an einem Schützenfest hält, ein Patriot der alten Schule, fest entschlossen, die Neutralität des Vaterlands, aber auch die Vormachtstellung seiner gesellschaftlichen Klasse zu verteidigen.
Doch der Fortbestand dieser bürgerlichen Welt ist gefährdet. Schon Ammanns Sohn Paul nimmt dem Vater das Pathos seiner Schützenfestrede nicht mehr ab. „Die bürgerliche Welt“, stellt er fest, „und zwar nicht nur die schweizerische, ist heute eine unverschämt selbstsüchtige, materialistische, ungeistige Welt, und es ist widersinnig, wenn sich seine Träger als Idealisten gebärden.“
Zäsuren
Die Figuren von Inglins Roman bewegen sich vor dem Hintergrund des Geschehens ihrer Zeit. Der Autor hat die Geschichte, wie sich in der Biografie von Beatrice von Matt nachlesen lässt, aus zeitgenössischen Quellen, insbesondere aus alten Jahrgängen der „Neuen Zürcher Zeitung“, sorgfältig rekonstruiert. Die markantesten Ereignisse - das Attentat von Sarajewo, die deutsche Niederlage an der Marne, der Kriegseintritt Italiens und der Vereinigten Staaten sowie die Russische Revolution - werden kurz festgehalten und kommentiert; es sind Zäsuren, welche das historische Geschehen strukturieren.
Alle Schichten der Gesellschaft sind in Inglins Gesellschaftsroman vertreten. Da sind zuerst die vier Kinder des Obersten Ammann und seiner Frau Barbara: Paul, Severin, Fred und die einzige Tochter Gertrud. Diese junge Generation tritt aus dem Schatten des Vaters heraus und sucht neue Wege der Selbstverwirklichung. Paul Ammann begrüsst den Kriegsausbruch als eine Möglichkeit, sich von erstarrten bürgerlichen Denk- und Verhaltensformen zu lösen.
Im Verlauf des Militärdienstes entwickelt er sich zum Pazifisten und nähert sich dem Ideengut eines radikalen Sozialismus. „Er war nun so weit“, schreibt Inglin, „er hielt den Krieg für eine Schande der zivilisierten Menschheit und fand, dass er mit allen Mitteln verhindert werden müsste.“ Severin, der älteste Sohn, Redaktor einer Lokalzeitung, ist seit dem Kriegsbeginn ebenso wie die Mehrheit der damaligen Deutschschweizer Bevölkerung germanophil gesinnt. Er gelangt mehr und mehr zu einer rechtskonservativen Haltung, welche ihr Heil im totalitären Machtstaat sucht.
Zweifel an Staat und Politik
„Ein Staat“, schreibt er in einem seiner Zeitungsartikel, „kann sich in unserer eisernen Zeit, in der die Verträge Papierwische geworden sind, nicht mehr mit Worten verteidigen, er muss die Waffe in der Hand vorweisen.“ Mit solchen Äusserungen bezieht Severin eine dem Nationalsozialismus nahestehende Position, wie sie ihren Ausdruck im Frontismus finden sollte. Auch der dritte Sohn, Fred, geht eine andere Richtung, als der Vater sich wünscht. Er gibt sein Studium der Rechte auf und studiert Naturwissenschaften.
Der Krieg lässt ihn an Staat und Politik zweifeln; ihn lockt das einfache Leben, und er sucht sich als Bauer zu verwirklichen. Die Tochter Gertrud Ammann schliesslich ist mit dem Instruktionsoffizier Hartmann verheiratet, einem Typ von „sportlicher Derbheit, herrischer Direktheit und männlicher Intelligenz“, der ihren seelischen Bedürfnissen nicht entgegenkommt und ihre musischen Interessen nicht teilt. Sie trennt sich von ihm und verliebt sich in Armin, einen jungen mittellosen Dichter. Mit diesen Figuren hat Inglin bestimmte Typen geschaffen, wie sie in ihrer Ablehnung traditioneller Konventionen und ihrer Suche nach neuen Lebensformen für die europäische Nachkriegsgeneration charakteristisch waren.
Republikanischer Humanismus
Zum weiteren Verwandtenkreis der Familie Ammann gehören der Professor für romanische Philologie Gaston Junod und sein Sohn René, der als Bataillonsarzt Dienst leistet. Die beiden Welschschweizer stehen jenseits des tiefen Grabens, der die Schweiz während des Ersten Weltkriegs spaltete. Sie vertreten einen der Aufklärung verpflichteten republikanischen Humanismus und nehmen während des Krieges Partei für die Entente. In den ausführlichen Kapiteln, die Inglin dem Aktivdienst widmet, treten schliesslich auch Vertreter der Bauern- und Arbeiterschaft auf, die in der damaligen Milizarmee, welche die Strukturen der Zivilgesellschaft widerspiegelte, die Stellung von Soldaten und Unteroffizieren einnahmen.
Meinrad Inglin war ein Patriot und er hat sich mit derselben Unbedingtheit in den Dienst des Vaterlandes gestellt, die auch sein schriftstellerisches Engagement kennzeichnete. Als Innerschweizer sah er sich einer langen und ehrwürdigen Tradition der Wehrhaftigkeit verpflichtet, und als Staatsbürger bekannte er sich zur allgemeinen Wehrpflicht und zur Verteidigung der Neutralität und Unabhängigkeit. Auch ist kein Zweifel, dass den Schriftsteller die militärische Lebensform anzog. Er bewegte sich gern in der freien Natur, war ein begeisterter Jäger und hervorragender Schütze, betrachtete die Selbstdisziplin als wichtige Mannestugend und war beeindruckt vom militärischen Zeremoniell, wie sich im „Schweizerspiegel“ an seiner Schilderung der Fahnenübergabe, der Vereidigung und eines Défilés ablesen lässt.
Trinkfestigkeit und Tapferkeit
Doch das Militär war für Inglin nie Selbstzweck, und jener auch in der Schweiz verbreitete preussische Militarismus, der im bewaffneten Kampf einen Akt höchster Selbstbewährung sah, war ihm fremd. Die Offiziere und Soldaten, die der Autor des „Schweizerspiegels“ schildert, sind für ihn Bürger in Uniform, Individuen, deren charakterliche Eigenart sich im Kollektiv der Truppe nicht auflöst. Inglins Sympathie gilt nicht Männern vom herrischen Schlage Hartmanns, sondern jenen Soldaten, die wie Paul Ammann unter den Strapazen der Gewaltmärsche und dem seelenlosen Drill leiden und dennoch durchhalten.
Auch scheut sich der Verfasser des „Schweizerspiegels“ nicht, Offiziere, die ihrer Verantwortung nicht gewachsen sind, kritisch darzustellen. „Dieser Mann“, schreibt er etwa von einem untauglichen Hauptmann, „hatte mit dem höchsten Eifer dem Vaterlande zu dienen versucht, aber in merkwürdiger Verblendung das Menschentum seiner Untergebenen missachtet...“ Zur in Offizierskreisen damals wie später weit verbreiteten Neigung, Trinkfestigkeit und Tapferkeit zu verwechseln, findet sich im „Schweizerspiegel“ die drastische Schilderung eines Saufgelages, die dem zeitgenössischen Leser als gewagt erscheinen musste. Kein Wunder, dass sich während des Zweiten Weltkriegs der „Schweizerspiegel“ schlecht als Propagandaschrift für die „Geistige Landesverteidigung“ einsetzen liess.
Sittliche Vernunft statt Leidenschaft
Zu der Zeit, da Inglin an seinem „Schweizerspiegel“ schrieb, gab es auch in der Schweiz eine weit verbreitete „Heimatliteratur“, die nicht selten durch den irrationalen Rückgriff auf völkische Werte und traditionelle Mythen das Selbstbewusstsein der Nation zu stärken und zu heben suchte. Es ist bemerkenswert, mit welcher Konsequenz und Stilsicherheit Inglin die Versuchung solcher Blut-und-Boden-Literatur von sich wies. Er schreibt ein sachliches, knappes, treffsicheres Deutsch; von Volkstum und Heldentum ist bei ihm nicht die Rede.
Dennoch ist im „Schweizerspiegel“ das Bekenntnis zu Freiheit und Demokratie unüberhörbar. Es tritt aber nie laut und pathetisch hervor. Erwähnt seien hier als Beispiel die aufmunternden Worte, die der Truppenarzt und Professorensohn René Junod – ausgerechnet ein Welschschweizer - an den zweifelnden und verzagenden Fred Ammann richtet: „Ihr bekommt ein grossartiges Vermächtnis in die Wiege gelegt“, sagt Junod, „aber ihr nehmt euch später nicht einmal die Mühe, es kennenzulernen und die Erbschaft richtig anzutreten. Dabei setzt unser Staatswesen geradezu voraus, dass die Bürger es in seiner wunderbaren Beschaffenheit erkennen und sich zu eigen machen. Es bleibt eine leere Maschine oder doch eine blosse schöne Möglichkeit, wenn es uns nicht in Geist und Blut übergeht. Aber dazu gehört der patriotische Übereifer eben so wenig wie der ausschliessliche Wille zur materiellen Wohlfahrt. Dazu braucht es vielmehr Erkenntnis, Bewusstsein, Reife. Es ist eine bedeutsame Eigentümlichkeit unseres Staatsgedankens, dass er nicht auf die Leidenschaft wirkt, sondern auf die sittliche Vernunft...“
Parallelen zu Tolstoi
Solche Worte mögen heute, vierzig Jahre nach dem Erscheinen von Max Frischs kritischem „Dienstbüchlein“ über den Aktivdienst 1939-1945 und in einer Zeit tiefgreifender politischer Verunsicherung, überholt und altväterisch erscheinen; doch die künstlerische Leistung Meinrad Inglins verleiht ihnen Glaubwürdigkeit über den Tag hinaus.
Inglin hatte, bevor er seinen Roman begann, Tolstois „Krieg und Frieden“ gelesen, und zwischen dem „Schweizerspiegel“ und dem gewaltigen Werk des Russen gibt es zahlreiche Parallelen. Tolstoi schilderte den Widerstand seines Landes gegen Napoleons Armeen in einem riesiges Schlacht- und Gesellschaftsgemälde und stiess dabei bis zu den letzten Fragen der Geschichtsphilosophie und der nationalen Identität vor. Meinrad Inglin dagegen wählte mit Bescheidenheit und klugem Kunstverstand ein wesentlich kleineres Format. Für ihn gab es kein Austerlitz und kein Borodino, keine Grossfürsten und Hofdamen zu schildern, sondern bloss die Geschichte eines kleinen Landes, das sich unter dem Druck äusserer Bedrohung auf einen Ernstfall vorbereitete, der nie eintrat. So gelang es Meinrad Inglin, ein Meisterwerk zu schaffen, dessen Bedeutung für die Schweizer Geistesgeschichte derjenigen von Tolstois „Krieg und Frieden“ für die russische nicht nachsteht.