Meine beiden Kater stellen mich vor ein fundamentales Problem. Sie sind Methusalems mit ihren fast zwanzig Jahren auf dem schwarzen Buckel. Ziemlich erfahrene und – ich zweifle nicht – intelligente Tiere. Oft erstaunen sie mich mit Fähigkeiten, die ich ihnen nicht zugetraut hätte oder die mir schlicht abgehen.
Die Verhaltensforschung liefert mir Erkenntnisse über ihre arteigenen kognitiven Vermögen – ihre «Intelligenz». Und in diesem Bemühen trägt sie bei zum allgemeinen wissenschaftlichen Projekt, das Tierreich, ja, selbst das Pflanzenreich als einen immer noch recht unbekannten Kontinent fremder Intelligenzformen zu studieren und kartieren. Dieses Projekt sagt schlicht und einfach: Wir müssen uns von der anthropozentrischen Idee lösen, allein der Homo sei sapiens. Auch das Tier ist es, auf seine arteigene Weise – Animal sapiens.
Die felinozentrische Weltsicht
Natürlich bin ich den Katern in einigen Dingen überlegen. Zum Beispiel übersteigen Goethes Poesie und die Differentialrechnung ihren «Begriffshorizont»; sie wissen auch nicht, wie der Kühlschrank funktioniert, in dem ihr Futter aufbewahrt ist, oder dass Whiskas Proteine enthält. Aber diese Betrachtungsweise lässt sich felinozentrisch umkehren. Was weiss ich denn von ihrem heimlichen Informationsaustausch über mich? Was von ihren Absichten, wenn sie um meine Beine streichen? Schon Montaigne trieb die Frage um: «Wenn ich mit meiner Katze spiele, wer weiss, ob sie sich nicht noch mehr mit mir die Zeit vertreibt als ich mir mit ihr?»
Die Frage aller Fragen
Wenn es also in der Natur unzählige andere, fremde Intelligenzformen gibt, wie weit verstehe ich sie eigentlich? Ich benötige zu diesem Verstehen ja meine menschliche Begrifflichkeit. Ist sie nicht ebenso beschränkt, was das Leben der Kater angeht? Was kann ich überhaupt von Dingen wissen, die meinen konzeptuellen Horizont übersteigen?
Das ist eigentlich die Frage aller Fragen. Sie wurde schon vor fast hundert Jahren vom britischen Biologen John Burdon Sanderson Haldane in einem einzigen Satz angesprochen: «Meiner Ansicht nach ist das Universum nicht nur sonderbarer (‘queerer’), als wir es uns vorstellen, sondern sonderbarer, als wir es uns vorstellen können.»
Haldane spielte damit auf eine Grenze im Verständnis fremder Intelligenzen an, die sich nicht einfach auf den jeweils aktuellen Kenntnisstand und konzeptuellen Horizont der Forschung bezieht, sondern generell auf das Vermögen des Menschen, fremde Intelligenzen zu verstehen; also auf eine konstitutionelle Grenze, die der kognitive Apparat der Menschengattung uns setzt, wie entwickelt er auch sein mag.
Die Intelligenz-Leiter – ein Mythos
Als Biologe hatte Haldane allen Grund zu einer solchen Feststellung. Die Natur ist voller kognitiver «Exoten». Den Ethologen steht heute ein potententes Instrumentarium zur Verfügung, um Tierintelligenz zu studieren, in der Gestalt von Evolutionsbiologie, Kognitionspsychologie, Neurowissenschaft und weiteren Disziplinen. Und sie zeichnen ein Bild der Natur, in der es keine eindimensionale Leiter gibt, die von «niedriger» zu «höherer» Intelligenz führt. Der Mensch lebt neben Katern, Würmern, Kakteen, Pilzen, Bakterien. Alle diese Lebewesen haben ihre artspezifischen kognitiven Fähigkeiten entwickelt, nur nicht in der Richtung des Menschen. Sind sie weniger intelligent als Menschen? Die kognitive Ethologie überrascht uns laufend mit Entdeckungen über die Vielfalt und Differenzierung von intelligentem Verhalten im Tier- und Pflanzenreich. So dass der renommierte, kürzlich verstorbene Verhaltensforscher Frans de Waal im Titel eines seiner Bücher unverblümt fragt: «Sind wir intelligent genug, um zu wissen, wie intelligent Tiere sind?»
Unsere Intelligenz ist «provinziell»
Menschliche Intelligenz ist, wie jene meiner Kater, eine «provinzielle» Intelligenz. Sie ermöglicht uns vieles, ja, sie schafft Wunderwerke der Technik, Wissenschaft, Kunst. Zyniker könnten heute freilich einwenden: Ist denn ein solches «barockes» Organ wie das Menschenhirn nicht ein luxuriöser Überfluss der Natur? Trägt es wirklich zu unserer Fitness bei? Was ist der ganze evolutionäre Aufwand wert, ein Lebewesen zu produzieren, das mit seiner Intelligenz im Begriff ist, sich selbst abzuschaffen, indem es den Planeten zugrunde richtet? Der Einwand kommt reichlich spät, aber er formuliert präzise das Gegenbild zur Stufenleiter: Erscheint es aus der Perspektive einer evolutionären Kosten-Nutzen-Rechnung nicht dumm, so intelligent wie wir zu sein?
Künstliche Intelligenz
Eines der Werke menschlicher Intelligenz ist die künstlichen Intelligenz. Sie beginnt unergründliche Wege einzuschlagen. Wir bekommen es mit einer neuen Gattung von Maschinen zu tun, mit smarten Black Boxes. Das heissst, wir haben durchaus ein allgemeines Konzept dessen, was sie tun, aber wir sind nicht mehr in der Lage, dieses Tun in der Tiefenarchitektur der Maschine im Detail nachzuvollziehen.
Betrachten wir die zurzeit gehypten Gadgets der neuronalen Netze, etwa den «generative pretrained transformer» (GPT). Auf die Frage, ob er intelligent sei, liefert der ChatGPT4 den Output, er simuliere Intelligenz, aber verstehe die Welt nicht so wie ein Mensch. Das ist natürlich nicht die «Antwort» des KI-Systems, sondern die Antwort, die es brav dem Menschen nachpapageit. Aber muss man denn die Welt verstehen, wie der Mensch dies tut? Sind wir hier nicht wiederum befangen in unserer eigenen anthropozentrischen Sichtweise? KI-Systeme korrigieren und verbessern ihre Lernalgorithmen schon heute selbständig. Angenommen, sie tun dies in Zukunft immer mehr ohne Supervision des Menschen. Könnten sie sich da «unüberwacht» weiterentwickeln in Richtung einer künstlichen Superintelligenz? Einer Machina sapiens?
Was wäre eine fremde Intelligenz, die sich als inkompatibel mit der menschlichen erweist? Intelligenz ist ein Vergleichsbegriff: intelligent wie was? Wie also soll man etwas intelligent nennen, wenn man es nicht mindestens zum Teil in den Horizont menschlicher Begriffe hereinholen kann? Wenn wir sagen, der Computer habe ein intelligentes Resultat geliefert, meinen wir, dass ein solches Resultat dem Menschen Intelligenz abfordern würde. Der Referenzpunkt des Verstehens sind immer wir. Unbegreifbar bedeutet für uns unbegreifbar.
Gefangen im anthropomorphen Zirkel
Von Sigmund Freud stammt der Satz: «Unser Verständnis reicht so weit wie unser Anthropomorphismus». Anthropomorphismus ist unter Wissenschaftlern verpönt als vermenschlichende Pseudoerklärung. Wir würden dadurch nur unsere Vermögen und Eigenschaften auf die fremde Intelligenz projizieren, blieben also letztlich in einem anthropomorphen Zirkel gefangen. Das mag bis zu einem gewissen Grad stimmen, wenn man sich die vielen naiven Vermenschlichungen vergegenwärtigt, die der Mensch dem Tier «antut» und es gerade dadurch entfremdet, das heisst, ihm nicht seine artspezifische Lebensart zugesteht. Aber auch wenn wir letztlich nicht aus dem anthropomorphen Zirkel ausbrechen können, so können wir ihn erweitern, unsere Vorstellungen ändern und verbessern, dem Tierverhalten angleichen, statt dieses unserem Verhalten anzugleichen.
Wie steht es mit KI-Systemen? Was, wenn sie eine Entwicklungsstufe erreicht haben werden, die mit Tieren vergleichbar ist? Müsste man dann eine neue Disziplin namens Maschinenethologie einführen, die das Verhalten künstlicher Systeme wie jenes von anderen, fremden Arten studiert? Und angenommen, diese postbiologische Evolution erfolge in einem weit höheren Tempo als die biologische – wäre diese Disziplin vom Verhalten künstlicher Arten nicht hoffnungslos überfordert? Die letzte Freudsche Kränkung?
Enhancement – Koevolution von Mensch und Maschine
Aber könnten sich unsere kognitiven Vermögen im Zusammenspiel mit den KI-Systemen nicht auch weiterentwickeln und verbessern, in einer Koevolution von Mensch und Maschine? Man spricht von «Enhancement», dem Aufmöbeln des menschlichen kognitiven Apparats durch intelligente Prothesen. Vielleicht ist mit künftigen transhumanen Generationen zu rechnen. Zyniker prophezeien allerdings eher das Gegenteil, nämlich eine Regression der Intelligenz, zumindest bei einer Mehrheit der Menschen. Was mit Blick auf den aktuellen Technikgebrauch nicht unplausibel erscheint. Wie auch immer, «verbesserte» Generationen werden sich zwar durch einen erweiterten, aber dennoch endlichen Verständnishorizont auszeichnen. Auch sie werden jedoch mit der Frage aller Fragen konfrontiert sein.
Die Natur ist ein Reich voller fremder organischer Intelligenzen, terrestrischer, wahrscheinlich auch extraterrestrischer. Nun schafft der Mensch ein neues Reich, voller fremder anorganischer Intelligenzen. Und er muss sich eingestehen, dass er in beiden Reichen weder Höhepunkt noch Mittelpunkt ist. Wo denn liegt sein Platz?
Das ist die Frage eines neuen kopernikanischen Zeitalters.