Rousseau bezeichnet sich als schüchtern und unbeholfen. Beim Anblick von Frauen zittert er oft. Doch gerade seine Schüchternheit und sein angenehmes Äusseres machen ihn bei Frauen beliebt – auch bei den reichen Marquisen in den Pariser Salons. Er verehrt dominante Frauen. Das beginnt schon früh.
Mit elf Jahren leistet er sich zwei Freundinnen - parallel. Die eine heisst Mademoiselle Vulson. Sie ist doppelt so alt wie er. Er ist rasend verliebt. Sie spielt mit ihm, er leidet. „Ich empfand Qualen“, schreibt er in den Confessions, den Bekenntnissen, „aber diese Qualen waren mir lieb“.
Zur gleichen Zeit verliebt er sich in „das kleine Fräulein Goton“. Sie spielt die Schulmeisterin. „Ohne schön zu sein, hatte sie ein Gesicht, das man schwer vergessen kann.“ Sie erniedrigt ihn, was ihn berauscht. „Bei Fräulein Goton war ich eifersüchtig wie ein Türke, ein Rasender, ein Tiger gewesen… All meine Sinne waren verwirrt … Wenn Fräulein Goton mir befohlen hätte, mich in die Flammen zu stürzen, so hätte ich ihr augenblicklich gehorcht.“
Und: „Zu Füssen einer herrischen Geliebten zu liegen, ihren Befehlen zu gehorchen, sie um Verzeihung bitten zu müssen, waren für mich süsseste Freuden.“
Er küsst die Vorhänge ihres Schlafzimmers
Die dominante Françoise-Louise de Warens ist seine erste grosse Passion. In Evian hatte die 29-jährige protestantische Waadtländerin den katholischen König Vittorio Amadeus getroffen. Er ist Herzog von Savoyen und König von Sizilien und Sardinien. Er drängte Frau Warens dazu, in Annecy in Hochsavoyen ein Heim für junge Menschen zu eröffnen. Dort sollen junge Leute aufgenommen werden, die vom Calvinismus, „dieser Schreckenslehre“, wieder zum Katholizismus übertreten. Madame de Warens geht auf den Vorschlag ein. Sie erhält dafür vom König eine Pension von 15‘000 piemontesischen Livres. Natürlich tritt sie zum Katholizismus über.
Nachdem Rousseau mit knapp 16 Jahren aus Genf geflüchtet war, weiss er nicht wohin. Ein katholischer Pfarrer in Confignon bei Genf schickt ihn zu Frau Warens. Rousseau fürchtet, eine alte Betschwester zu finden.
Er trifft sie am Palmsonntag 1728. Er ist überwältigt. Den Ort, an dem er sie erstmals sieht, „habe ich seither oft mit meinen Tränen benetzt und meinen Küssen bedeckt“. Er küsst die Vorhänge in ihrem Schlafzimmer. Er schwärmt von ihren blauen Augen, ihren „aschblonden Haaren, ihrem engelsgleichen Lächeln und ihrem wohlgeformten Busen“. „Diese Epoche meines Lebens hat über meinen Charakter entschieden.“
Sie ist Lehrerin, Erzieherin, Mutter und Geliebte
Sie ist einerseits Mutter-Ersatz. Jean-Jacques, dessen Mutter zehn Tage nach seiner Geburt starb, nennt seine Angebetete „Mama“. Doch sie ist viel mehr. Sie fördert seine musikalische Begabung. Sie lehrt ihn, sich auszudrücken, richtig zu schreiben, sie feilt an seiner Sprache. Immer wieder muss er ihr vorlesen. Später führt sie ihn in die Geheimnisse der Liebe ein. Doch zuerst ermuntert sie ihn, nach Turin zu gehen, wo er zum Katholizismus übertritt.
Dort, in einem Kloster, trifft er ein hübsches Mädchen „mit schelmischen Augen“. Die Klosterbrüder verhindern eine Annäherung. Er trifft auch Frau Basile, eine Kaufmannsfrau, bei der er kurz arbeitet. Sie ist „von entzückendem Aussehen“. Bei ihr habe er „die süssesten und reinsten Freuden der Liebe in ihren Anfängen gekostet“. Er geht in ihr Zimmer, sie befiehlt ihm, sich niederzuknien. So hat er „einen so süssen Augenblick genossen wie nie in meinem Leben“. Der Ehemann wirft ihn raus.
In Turin entblösst er sich auch vor Frauen, was seit je ein Heer von Psychoanalytikern auf den Plan ruft. Auch seine Lebensbeichte, die „Bekenntnisse“, die er mit 50 Jahren schrieb, hat viel Exhibitionistisches an sich.
Beim Grafen von Favria wird er als Bediensteter angestellt. Dort trifft er Fräulein von Breil „mit jenem sanften Gesichtsausdruck der Blondinen, dem mein Herz nie widerstanden hat“. Er soll ihr bei Tisch Wasser einschenken, er zittert so, dass er sie begiesst.
“Leb wohl, Fieber, Hysterie, Herzpolyp“
Jetzt verlässt er Turin und kehrt zu Madame de Warens zurück. Zwar hat sie schon einen Liebhaber, doch als der stirbt, tritt Rousseau an seine Stelle. Er, der sie während Jahren so zügellos begehrte, sagt jetzt plötzlich: „Ich glaubte, ich beginge Blutschändung.“
Rousseau und seine „Mama“ ziehen von Annecy südwärts nach Chambéry in Savoyen. Dort beziehen sie das romantische Landhaus „Les Charmettes“. Frau de Warens eröffnet hier eine „königliche Pflanzschule“.
Jean-Jacques, stets kränkelnd, ist auch ein Hypochonder. Er glaubt einen Polypen am Herzen zu haben und will in Montpellier einen Spezialisten aufsuchen. Auf dem Weg dorthin trifft er „die liebenswürdige Frau von Larnage“. Sie verführt ihn bei einem Spaziergang vor der Stadtmauer von Valence – und weg ist der Polyp. Rousseau kommentiert: „Lebe wohl Fieber, Hysterie, Herzpolyp“. „Ich kann sagen, dass ich es Frau von Larnage verdanke, nicht gestorben zu sein, ohne den Sinnengenuss kennengelernt zu haben.“ Ein weiteres Rendez-vous mit ihr lässt er platzen. Er hat Angst, sich in ihre Tochter zu verlieben.
“Meine Gewohnheit, mich zu verlieben“
Zurück bei Madame de Warens muss er feststellen, dass sie einen neuen Liebhaber hat, einen Schweizer namens Rudolf Winzenried. Er ist laut Rousseau „eitel, dumm, unwissend und frech“ – mit einem Gesicht „das ebenso gewöhnlich war wie sein Geist“. Die drei arrangieren sich, doch dann zieht Rousseau nach Lyon.
Dort wird er in einem reichen Haus Erzieher von zwei Knaben. Der Hausherr ist selten anwesend, dafür die Hausherrin. Zwar ist sie nicht schön, doch „das hinderte mich nicht daran, mich meiner Gewohnheit nach in sie zu verlieben“.
In Lyon hat er auch „zärtliche Erinnerungen an Fräulein Suzanne Serre“. „Mein Herz war von ihr lebhaft ergriffen - avec raison, car c’était une charmante fille“. Sie lässt in seinem Herzen „des souvenirs bien tendres“. Sie möchte ihn heiraten, doch er findet, sie seien sich allzu ähnlich.
Mit 30 Jahren trifft er in Paris ein. Inzwischen hat er eine neue Notenschrift erfunden, die auf Zahlen beruht. Das macht ihn bekannt. Ein Jesuit führt ihn bei der wohlhabenden Madame de Besenval und ihrer Tochter ein. Jetzt machen ihm reiche Marquisen und Prinzessinnen den Hof.
Madame d’Epinay, die Mäzenin
Er trifft die schöne Madame Dupin, die ihn beim Ankleiden empfängt und ihn provoziert. „Ihre Arme waren nackt, ihr Haar aufgelöst“. Jean-Jacques kann sich kaum halten und schreibt ihr einen Liebesbrief. Sie weist ihn ab.
Jetzt tritt Madame d’Epinay auf. Sie hat grossen Einfluss auf seine Entwicklung. Sie, die Gattin eines reichen Finanzmanns. Rousseau und sie tauschen Küsse aus und halten Händchen. Doch zwei Dinge stossen ihn ab: Sie hat flache Brüste – und wahrscheinlich hat sie die Syphilis. Immer wieder lässt sie ihrem Jean-Jacques grössere Geldmengen zukommen.
Reiche Marquisen sind es auch, die Rousseau eine Stelle als Sekretär des französischen Gesandten in Venedig vermitteln. Zwar schreibt er immer wieder, er sei nie zu Prostituierten gegangen. In Venedig jedoch hat er mindestens drei solche Frauen aufgesucht. Die eine, bei der er dann versagt, beschreibt er mit Superlativen. „Nie bot sich dem Herzen und den Sinnen eines Sterblichen eine so süsse Freude.“ Nach dem Besuch einer andern zitterte er vor Angst, eine Geschlechtskrankheit eingefangen zu haben.
Da er und sein Freund es nicht immer bei andern Frauen versuchen wollen, beschliessen sie, gemeinsam „ein Mädchen zu nehmen und es zu besitzen“. Eine Mutter verkaufte dazu ihre zwölfjährige Tochter. Doch dann schämen sie sich.
“Ich werde dich nie heiraten“
Zurück in Paris steigt er im hässlichen Gasthof Saint-Quentin nahe der Sorbonne ab. Dort trifft er „ein schüchternes, lebhaftes Mädchen mit einem sanften Blick“. Er ist 33, sie ist 22. Sie kann weder richtig lesen noch schreiben und ist im Hotel das Mädchen für alles. Sie, Thérèse Levasseur, wird bis zu seinem Lebensende an seiner Seite ausharren. Er nennt sie „meine Haushälterin“. Sie erträgt seine Launen und Depressionen. Sie begleitet ihn auf seiner jahrelangen Flucht. Sie erträgt seine richtigen und eingebildeten Krankheiten, seine Passion für andere Frauen – und vor allem erträgt sie, dass sie ihre fünf Kinder, die sie mit ihm hat, in ein Findelhaus geben muss.
Er sagt ihr gleich zu Beginn: „Ich werde dich nie verlassen, aber ich werde dich auch nie heiraten.“ 25 Jahre später heiraten sie dann doch; er ist dann 58 und ein verbitterter Mann.
Liebestrunken - die Frau, die sein Leben ändert
Madame d’Epinay hat ihm und Thérèse die Ermitage am Rande ihres Schlossparks in Montmorency westlich von Paris zur Verfügung gestellt. Er hasst die Stadt und will in Ruhe leben. Mit der Ruhe ist es bald vorbei. Madame d’Epinay hat eine Schwägerin. Sie wird Rousseaus Leben verändern.
Gräfin d’Houdetot ist verheiratet und ist die Mätresse des Marquis de Saint-Lambert, einem adligen Dichter. Eines Tages kreuzt sie zu Pferd und in Männerkleidung in der Ermitage auf. Sie „näherte sich den Dreissigern“, schreibt Rousseau. „Sie war keineswegs schön. Ihr Gesicht war durch Blatternarben entstellt, ihr Teint war unrein.“ Sie hatte Haare bis zu den Kniekehlen.
Sie treffen sich im Mondschein, sie küssen und umarmen sich. Rousseau ist liebestrunken. „Wie viele berauschende Tränen vergoss ich auf ihren Schoss? Diesmal war es Liebe, Liebe in ihrer ganzen Kraft und in ihrer ganzen Raserei. Mein ganzer Körper war in einem ungeheuren Aufruhr.“ Rousseau spricht von „Schauer, Herzklopfen, krampfhaften Bewegungen, der Ohnmacht des Herzens“.
Im Abgrund
Doch sie will nicht, und Rousseau bricht zusammen. „Das sind die schönsten Tage gewesen, die mir auf der Erde beschieden waren.“ Jetzt beginnt das lange Leiden, „von dem ich mich jahrelang nicht erholen konnte“. „Comtesse d’Houdetot“, schreibt er viele Jahre später, „hat mich in den Abgrund gezogen, in dem ich mich heute befinde.“
All seine Gefühle für die Angebetete legt er in den Roman „Julie oder Die neue Héloise“, den er jetzt schreibt. Da geht es dramatisch und leidenschaftlich zu. Da wird geschmachtet. „Das Blut verbrennt“ vor Begierde. „Deine Küsse, süsse Schauer.“ „Das Feuer vom Himmel ist nicht verzehrender als deine Küsse.“ Der Liebesroman war der grösste Bestseller des 18. Jahrhunderts. „Ich sah meine Julie in Frau d’Houdetot.“ Wahrscheinlich ist es umgekehrt.
Zur Verhaftung ausgeschrieben
Mit Thérèse beendet er jetzt die sexuelle Beziehung. Er ist der Ansicht, dass Sex ungesund für seinen schon kranken Unterleib ist. Er pflegt die Selbstbefriedigung. In Montmorency schreibt Rousseau nicht nur „Die neue Héloise“, sondern auch den Erziehungsroman „Emile“ und den „Gesellschaftsvertrag“. Darin greift er die Kirche und die Obrigkeit an. Er wird zur Verhaftung ausgeschrieben und muss fliehen.
Wieder ist es eine Frau, die ihm weiterhilft. Madame Boy de la Tour ist eine reiche Verehrerin seiner Schriften. Sie stellt ihm eine Einsiedelei in Môtiers im Neuenburger Val de Travers zur Verfügung. Hier fühlen sich Rousseau und Thérèse sicher, denn Neuenburg ist damals ein preussisches Fürstentum. Nach fast drei Jahren müssen sie auch von dort fliehen. Via Petersinsel gelangen sie nach Strassburg.
Und schon stehen zwei adlige Frauen bereit und helfen dem Verzweifelten weiter. Die Comtesse de Boufflers und die Marquise de Verdelin verschaffen ihm einen Pass.
“So musste ich es tun“ – keine Liebeserklärung
Er verbringt einige Zeit in England, kehrt dann nach Frankreich zurück und reist kreuz und quer durchs Land.
Dann endlich, 1768, heiratet er in Bourgoin südöstlich von Lyon seine „Haushälterin“. Mit seinen 56 Jahren ist er ein alter Mann. Sie ist 47. Doch es ist keine Liebesheirat. Rousseau sieht sich am Ende seiner Kräfte und will vor seinem Tod noch etwas regeln. Er würde es sich vorwerfen, wenn er diese „Pflicht“ nicht erfüllt hätte. „25 Jahre der Anhänglichkeit, Dienste aller Art und der Pflege während meiner Krankheiten, ihre Freundschaft für mich würden nicht genügt haben, mich zu diesem Schritt zu veranlassen. Aber dann sah ich, dass sie entschlossen ist, mein Geschick bis ans Ende zu teilen und mir überall hin in meiner bedrängten Lage zu folgen. So musste ich es tun.“ Nicht gerade eine Liebeserklärung.
“In Paris erreicht man nichts – ausser durch Frauen“
Jean-Jacques und Thérèse wohnen jetzt in Paris. Seine Hände beginnen zu zittern. Mit dem Kopieren von Noten kann er kein Geld mehr verdienen. So wird das Leben in Paris zu teuer für sie.
Auch am Schluss seines Lebens ist es eine Adlige, die ihm hilft: Die Marquise de Girardin stellt ihm ihr Landgut in Ermenonville zur Verfügung. Rousseau und seine Frau ziehen dort ein. Am 2. Juli 1778 stirbt er.
Thérèse wird als Gattin von Rousseau von den Revolutionären gefeiert und erhält eine Pension. An sie gehen auch alle Tantièmen und Lizenzgebühren seiner Werke. 16 Monate nach Rousseaus Tod heiratet sie Jean-Henri Bally, einen Diener. Sie stirbt 1801.
Frauen nehmen in Rousseaus Leben einen riesigen Platz ein. Er findet nur Superlative für seine Angebeteten. Sie haben ihn „erweckt“, aber sie haben ihn auch gelähmt. Ein wirklich normales, affektives Verhältnis zu Frauen hatte er nie. Er schwärmt, verliert den Boden unter den Füssen und dann weiss er nicht weiter. Psychoanalytiker sagen, er sei nie wirklich Mann geworden.
Er hat den Frauen viel zu verdanken. Sie haben ihn erzogen, geformt, seine Fähigkeiten entdeckt. Sie sind ihm in seinen schweren Stunden beigestanden. Sie haben ihn in die einflussreiche Gesellschaft eingeführt. Sie haben ihn finanziell unterstützt, Unterkünfte zur Verfügung gestellt. Ohne diese Mäzeninnen hätte er sich seine philosophische Arbeit gar nicht leisten können. Stets hat er den Adel kritisiert – doch ohne die reichen Marquisen würden wir Rousseaus 300. Geburtstag vielleicht nicht so pompös feiern.
Lange erinnert sich Rousseau an einen Satz von Pater Castel, den Jesuiten, der ihn zu den reichen Marquisen geführt hat. Castel sagte zu Rousseau: „In Paris erreicht man nichts – ausser durch Frauen.“
Lesen Sie frühere Artikel unserer Rousseau-Serie
"Ich bin ein Prinz, aber auch ein Schuft"
Rousseau in Genf: "Ich war in Genf ein Verrückter, ein wildes Tier