Als in den fünfziger und sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts der Motorfahrzeugbestand der Schweiz lawinenartig anschwoll, reagierte die Politik zunächst nur zögernd. Doch dann entstand in verhältnismässig kurzer Zeit ein Nationalstrassennetz von heute 1800 km. Die Stimmen jener, die Autobahnen grösseren Ländern hatten vorbehalten wollen, waren rasch verstummt.
150-jährige Infrastruktur
Als auch die neuen Strassenflächen sich der Sättigung näherten, erinnerte man sich der Schiene und entwarf das Ausbaukonzept Bahn 2000, das die Stimmberechtigten 1987 mit einem Kredit von 5,4 Mrd. Fr. bewilligten. Nach Jahrzehnten erstmals waren wieder längere Streckenneubauten geplant. Von den vier Abschnitten Vauderens–Villars-sur-Glâne (Lausanne–Freiburg), Mattstetten–Rothrist (Bern–Olten), Muttenz–Olten und Zürich Flughafen–Winterthur realisiert wurde dann allerdings nur einer. Die Kosten hatten die ungenauen Budgetzahlen weit hinter sich gelassen.
Selbst bei einer vollen Umsetzung der Bahn 2000 wäre die Schweiz von einem ferroviären Pendant zum Nationalstrassennetz noch weit entfernt. Die Züge der SBB rollen fast ausschliesslich auf einer rund 150-jährigen, bloss punktuell verbesserten Infrastruktur. Mit deren Kurvenradien sind Geschwindigkeiten von wenig mehr als 100 km/h möglich. Tempo 200 auf der Neubaustrecke Mattstetten–Rothrist, inzwischen längst selbstverständlich und anerkannt, war von einer hartnäckigen Opposition entgegengehalten worden, dass die Schweiz dafür zu klein sei.
Welsche Pionierleistungen
Die Romandie hat eine andere Sicht. Nach der Ankunft des TGV mit 260 und bald 300 km/h schon im Eröffnungsjahr 1981 in Genf und 1984 in Lausanne ist die grande vitesse in der Westschweiz rasch alltäglich geworden. Die Lausanner Kreisdirektion leistete bei den SBB Pionierdienste mit den Höchstgeschwindigkeiten 140 und später 160 km/h auf geeigneten Abschnitten der Walliser Linie.
Den Horizont weit fassend, gelang es dem emeritierten Lausanner ETH-Professor Daniel Mange, 14 am öffentlichen Schienenverkehr interessierte Fachleute unterschiedlicher Wissensgebiete um sich zu scharen. Auf seinem "Plan Rail 2050. Plaidoyer pour la vitesse" (presses polytechniques et universitaires romandes, Lausanne 2010) basierend, erarbeitete die Gruppe den umfassenderen und aktualisierten "Bahn-Plan 2050. Mehr Tempo für die Schweiz" (Rüegger-Verlag, Zürich/Chur 2012).
Integration statt Anschlüsse
Das allgemeinverständliche Buch postuliert eine echte Integration der Schweiz ins wachsende europäische Hochgeschwindigkeitsnetz anstelle blosser Anschlusslinien mit unattraktiv langen Fahrzeiten. Im Inland sollen die Städte rascher miteinander verbunden, die Randregionen besser erschlossen und die entlasteten Stammlinien intensiver für den Regional- und Güterverkehr genutzt werden.
Eine Fülle präziser Fakten und Informationen ist geeignet, den Ausbau der Schiene in zukunftsweisendere Bahnen zu lenken. Das Vorwort stammt vom leicht distanzierten Präsidenten des SBB-Verwaltungsrates, Ulrich Gygi. Den Autoren immerhin wichtige Denkanstösse attestierend, erwähnt er seine nach Kritik rasch relativierte Sympathie für eine Hochgeschwindigkeitsverbindung Bern–Zürich nicht.
Die Gruppe Mange hofft auf einen Wiederaufschwung der Bahn in der Schweiz, deren Höhepunkt mit einer entspannten Finanzlage, dem elektrifizierten Netz, innovativen Leichtschnellzügen und einer angesehenen Industrie sie auf die Fünfzigerjahre situiert. Ihre Vision bilden Hochgeschwindigkeitsstrecken von Bourg-en-Bresse über Genf, Lausanne, Bern, Zürich nach Konstanz und St. Gallen sowie von Basel via Zürich, Gotthard und Lugano nach Mailand.
Die Geschwindigkeit solle bis 320 km/h betragen. Im Gotthard-Basistunnel werden, wie von den offiziellen Stellen, 250 km/h angestrebt, wobei die Autoren die Unlogik nicht thematisieren, gleichzeitig Beschleunigungen im viel ertragsstärkeren Mittelland zu dämonisieren. Im längsten Tunnel der Welt würde mangels Überholungsgleisen mit Geschwindigkeiten von über 160 km/h (der Limite im Kanaltunnel) die Kapazität für den 100 km/h schnellen Güterverkehr drastisch reduziert.
Genf–Renens und Roggwil–Altstetten
Die Prioritäten bei der Realisierung der Neubaulinien setzt die welsche Gruppe bei den Abschnitten Genf–Renens und Roggwil–Zürich Altstetten. Die meistbelastete Strecke der Westschweiz bewältigt Schnellzüge der Richtungen Wallis, Bern und Biel, einige Güterzüge und den enorm gewachsenen S-Bahn-Verkehr. Die politisch geforderte troisième voie entlang der bestehenden Strecke würde nichts daran ändern, dass technische Störungen und Suizide die einzige Verbindung Genfs mit der übrigen Schweiz teilweise ganze Tage lang unterbrechen.
Die direkte Linie Roggwil–Altstetten wäre die logische Fortsetzung der Bahn-2000-Strecke von Mattstetten. Sie soll dem Reiseverkehr von Bern und Biel und mit einer kurzen Verbindungslinie auch Basel und den TGV- und ICE-Zügen aus Paris, Südfrankreich und Deutschland nach Zürich dienen. Bei maximal 200 km/h würde die Fahrzeit Bern–Zürich auf 42 Minuten, mit Tempo 320 auf knapp 30 Minuten sinken. Die Umwegverbindung mit Mischverkehr, der Umfahrung Olten sowie dem Eppenberg-, dem Chestenberg- und dem Honerett-Tunnel wäre langsamer, teurer und später verfügbar.
In ihrer besonders für die anstehenden Investitionsentscheide des Parlaments wertvollen Publikation zeichnet die Gruppe Mange die wechselvolle Geschichte von Hauptlinien und die Gründe des Scheiterns früherer Ausbaupläne nach. Ein Feuerwerk von Argumenten widerlegt populistische Einwände gegen raschere Züge. Die Bahn solle nicht möglichst schnell sein, sondern nur schneller als das Auto und auf mittlere Distanzen fast so schnell wie das Flugzeug. Mit der Verlagerung auf die Schiene könne Energie gespart und der CO2-Ausstoss verringert werden.
PPP-Finanzierung
Nicht den gleichen Tiefgang wie bei Betrieb, Bau und Technik erreicht das Buch bei wirtschaftlichen und finanziellen Fragen. Der Einfluss der Bevölkerungszunahme auf die Dringlichkeit weiterer Bahnbauten wird nicht erörtert. Dagegen ist klar, dass Prof. Mange stark auf eine PPP-Finanzierung setzt, weil der hohe Aufwand für die neuen Alpentransversalen dem Bund noch lange die Hände bindet und die teilweise privat finanzierten TGV-Projekte Tours–Bordeaux und Le Mans–Rennes sehr interessante Baukosten und Realisierungszeiten versprechen.