Freiheit ist in der pädagogischen Provinz ein seltenes Wort geworden. Es kommt kaum mehr vor. Der Lehrplan 21 mit seinen 470 Seiten erwähnt es überhaupt nicht, auch als Synonym „Autonomie“ nicht. [1] Dabei wäre Freiheit der Kern des Lernens, ja des ganzen pädagogischen Wirkens – dies im Sinne der europäischen Aufklärung.
Frei werden in der Schule
Wo werden viele Schülerinnen und Schüler frei? Jedenfalls nicht durchwegs zu Hause – und nicht in den oft engen familiären Verhältnissen. Nein. Die Schule dagegen könnte ein Biotop des Frei-Werdens sein: frei von Zwängen und frei für ein eigenständig gestaltetes Leben in sozialer Verantwortung – der Zweck und das Ziel der Schule. Darum ist auch schulische Freiheit zugleich bezogen aufs „Wovon“ und aufs „Wozu“. Sonst bleibt der Begriff der Freiheit abstrakt.
Beredtes Beispiel ist Albert Camus, der grosse Schriftsteller seiner Generation und Literaturnobelpreisträger von 1957. Ohne die Schule und ohne seinen Lehrer Louis Germain wäre Camus’ Freiheit als Aufbruch aus dem harten, armseligen Milieu seiner Familie zum gefeierten Laureaten nicht möglich gewesen. [2]
Zum Frei-Werden braucht es die freie Lehrerin
Frei werde ich nicht durch mich selber. Es braucht die andern; es braucht die Lehrerin, es erfordert den Lehrer, der mich anregt und mich so zu mir selber führt – zum Denken, verstanden als innerer Dialog zwischen mir und mir selber. Es ist dieser Dialog, der „das Person-Sein (…) vom Nur-menschlich-Sein“ unterscheidet [3] – die Entwicklung vom Menschen, als der wir geboren werden, zur Person. Zu ihr müssen wir uns bilden. „Bildung als Kultivierung seiner selbst“, wie es Wilhelm von Humboldt, Gründer der preussischen Volksschule und der Berliner (Humboldt-)Universität, sinngemäss ausgedrückt hat. Lehrerinnen und Lehrern kommt dabei eine bedeutsame Rolle zu.
Doch Lehrpersonen können diese grundlegende Bildungsaufgabe nur wahrnehmen und als mögliche Vorbilder wirken, wenn sie dazu auch die notwendige Freiheit haben. Freiheit ist die Freiheit des Handelns. Nur schon deshalb muss die Schule ein Ort der Freiheit bleiben. Frei von unnötigen Vorschriften und Vorgaben, frei fürs zielorientierte und kreative Handeln, frei fürs spontane Eingehen auf Kinder und frei auch für die autonome Wahl von einleuchtenden Prinzipien. Freiheit bringt Raum für das Unvoraussehbare und Unvoraussagbare.
Von der Verantwortung fürs Wesentliche
Bildungsreformer in den Stäben haben die Tendenz, ins Operative einzugreifen und im Detail zu normieren – und zwar mit engen Vorgaben und einem dichten Regelwerk statt mit strategischen Zielen und Prinzipien. Der Lehrplan 21 ist das beste Beispiel. Er regelt sehr kleingerastert. Bildungsadministratoren in den akademischen Dachterrassen sind sich zu wenig bewusst, dass man die meisten Dinge im pädagogischen Erdgeschoss nicht reglementieren kann, sonst zieht man ins Tausendste. Je höher die Vorschriftendichte, desto kleiner der Spielraum im Klassenzimmer.
Vor Ort, an der pädagogischen „Front“, aber braucht es die Sensibilität für die wesentlichen Dinge, verbunden mit einem hohen Verantwortungsgefühl für den Lernfortschritt der Kinder. Nur so lässt sich die Gefahr des resignativen Konformismus wegen der vielen Vorschriften und das schleichende Gift der Beliebigkeit verhindern. Beides steigert die Diffusität. Davon geht heute die Hauptgefahr aus. Wer als Lehrperson resigniert oder beliebig handelt, untergräbt die legitime Forderung nach Freiheit. Die zentralen Steuerungsmechanismen von oben sind Zeichen fehlenden Vertrauens.
Regeln oder Prinzipien: zwei verschiedene Wege
Darum müssten sich Schulen und Schulleitungen vermehrt um gemeinsame schulische Prinzipien bemühen: Was ist uns pädagogisch wichtig? Welche Wirkung wollen wir miteinander erreichen? Prinzipien bilden eine generell gültige Entscheidungsgrundlage von hoher Dynamik, während Regeln nur situativ gelten und eher geringe Energie generieren. Prinzipien erzeugen und erhöhen die individuelle Verantwortung, während Regeln in der Tendenz Bürokratie bewirken. „Make the maximal use of principles!“, verkündete darum der originelle Denker Peter Drucker seinen Leuten.
Hoher Effektwert gemeinsam definierter Ziele vor Ort
Die Richtschnur muss sein: je mehr „Diversität“ in einer Schule, desto wichtiger die gemeinsamen Prinzipien. Wie wirksam diese prinzipiellen Basiselemente sind, zeigt John Hattie. Der renommierte neuseeländische Bildungsforscher weist nach, dass gemeinsame Überzeugungen und pädagogische Haltungen eines Lehrerkollegiums den Lern-Wirkwert bei Schülerinnen und Schüler deutlich erhöhen (Collectiv Teacher Efficacy). [4]
Eine solche Wirksamkeit entsteht beispielsweise, wenn alle Lehrpersonen einer Schule sprachlich präzises Feedback erteilen und ermutigen. Die Grundhaltung: Feedback ist für uns mehr als ritualisierte Rückgabe von Leistungskontrollen; es reduziert die Diskrepanz zwischen Ist und Soll und stärkt die Schüler. So etwas kann nur vor Ort und in der Einzelschule passieren – nicht zentral kommandiert. Wichtig ist das Verantwortungsbewusstsein der einzelnen Lehrperson sowie der Wille, die Idee vollständiger Autonomie aufzugeben – bei gleichzeitig gewährter methodisch-didaktischer Freiheit.
Verantwortung wahrnehmen braucht Freiheit und Freiraum
Das schulische Feld ist weit und der Unterrichtsalltag widersprüchlich. Pädagogisches Handeln ist darum situatives Entscheiden – in Verantwortung für die Kinder und Jugendlichen. Stunde für Stunde, Tag für Tag. Verantwortung wahrnehmen aber braucht Freiheit und Freiraum – nicht vermehrt Vorgaben und Vorschriften. Und es braucht eine Schulleitung, die pädagogisch denkt, konsequent die Sprache des Lernens spricht und entsprechend handelt.
Lernwirksame Schulen geben darum ihren Lehrerinnen und Lehrern im Operativen viel Freiheit, aber aus gemeinsamen schulspezifischen und pädagogischen Prinzipien heraus. Gute Schulleitungen wissen: Humane Energie für kluge situative Entscheide kommt aus Freiheit, nicht aus lehrmethodischen Direktiven und dem Druck durch Dekrete. Das feine Ferment Freiheit steckt in jeder Lehrer-DNA. Sie ist und bleibt der Kern des pädagogischen Wirkens.
[1] Das wichtige Wörtlein „frei“ taucht lediglich als Adverb auf: „frei“ verfügbar und einmal als Name: Albert Frei.
[2] Albert Camus (1994), Le premier homme. Editions Gallimard, S. 180f.
[3] René Torkler (2015), Philosophische Bildung und politische Urteilskraft. Hannah Arendts Kant-Rezeption und ihre didaktische Bedeutung. Freiburg i. Br.: Verlag Karl Alber, S. 174
[4] Aktualisiertes Hattie-Ranking: https://visible-learning.org/nvd3/visualize/hattie-ranking-interactive-2009-2011-2015.html [Status: 15.10.2019].