„Wir bereuen nicht, was wir getan haben, sondern was wir nicht getan haben“, wusste schon Marc Aurel. Eine Kurzgeschichte von Meret König, die an der „Erzählnacht“ den ersten Preis gewann.
Journal21.ch will die Jungen vermehrt zu Wort kommen lassen. In der neuen Rubrik „Jugend schreibt“ nehmen Schülerinnen und Schüler des Zürcher Realgymnasiums Rämibühl regelmässig Stellung zu aktuellen Themen.
Meret König wurde im Jahr 2000 in Berlin geboren und besucht die sechste Klasse am Realgymnasium Rämibühl in Zürich. Ihre Interessen liegen im Bereich Theater, Photographie und Gestaltung. Im September nahm sie mit der AG Theater Rämibühl am Jugendtheaterfestival Schweiz teil. Vor ein paar Wochen gewann sie an der Erzählnacht des Realgymnasiums den Haupt- und Publikumspreis.
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Mein Tee starrt mich an. Ich starre zurück. Dann schaue ich weg. Eins zu null für den Tee. Der ist aber auch hartnäckig, dieser kalte Kamillentee.
Gelangweilt wandern meine Augen durch den Raum. Wahnsinn, es sieht alles noch genau gleich aus wie vor dreissig Sekunden, als ich mich das letzte Mal umgeschaut habe. Da der andere Teetrinker am Fenstertisch, das Fenster selbst, mit Blick auf die vorbeiziehenden Passanten, die gelangweilt Gläser putzende Barkeeperin, die Schnapsflaschen auf dem Regal über ihr, die sauberen Gläser knapp darunter und weiter rechts, die leeren Barhock-Du.
Da sitzt du. Auf einem nicht mehr leeren Barhocker. Mit einem nicht mehr sauberen Glas in der Hand. In Zeitlupe erhebe ich mich. Meine Haare wehen im Wind, als ich auf dich zu gehe. Gekonnt stütze ich meine Hand auf dem Tresen auf und mache dich damit auf mich aufmerksam. Du schaust auf. Unsere Blicke treffen sich. Ich lehne mich ein bisschen in deine Richtung und sage: „Wollen wir zusammen Socken kaufen gehen?“ Du sagst Ja. Wir springen auf. Rennen auf die Strasse. Ich nehme deine Hand und du meine. Wir drängen uns in geschicktem Slalomduett durch die Menge. Du lachst. Ich lache. Wir rennen. Die Passanten teilen sich. Köpfe drehen sich nach uns. Wir rennen immer noch.
Wir sind im Sockenladen. Du sagst: „Schau der Mops auf dieser olivgrünen Socke, der sieht genauso aus wie du.“ Ich sage: „Ich liebe dich.“ Wir rennen weiter. Ich trage Mopssocken und du welche mit Bananen. Ich sage: „Lass uns aus einer alten Badewanne eine Seifenkiste bauen.“ Du sagst: „Ich will mit dir alt werden.“ Wir sitzen in der Badewanne. Umringt von lila Gummigänsen. Du lachst und ich staune. Du hast eine Perücke aus Schaum und ich küsse dich.
Wir schauen den Mond an und dann uns und dann wieder den Mond und dann sagen wir gleichzeitig: „Guck mal, der sieht ein bisschen aus wie deine Oma.“ Dabei kenne ich deine Oma gar nicht und du meine auch nicht.
Wir stehen auf dem Parkplatz vor Ikea. Du fragst die Leute bedeutende Fragen und ich beantworte alles, bevor sie die Chance haben.
Du sagst: „Was war zuerst, das Huhn oder das Ei.“ Ich schreie: „Das Pantoffeltierchen.“ Der Ikea-Angestellte erteilt uns lebenslänglich Hausverbot und wir lachen. Wir fahren zusammen nach Brandenburg. Wir laufen durch alle Dörfer, als wären wir Einheimische. Du lachst und fällst damit auf. Ich bin verliebt und falle damit auf. Ein Einheimischer erteilt uns lebenslänglich Hausverbot. Wir spielen ein Spiel. Du suchst einen Passanten aus. Ich stelle den dazu passenden Sukkulenten pantomimisch dar. Ich bin ein Kaktus und du eine Seegurke und zusammen sind wir exotischer Fruchtsalat.
Wir werden alt. Du schubst mich auf unserer Veranda von der Hollywoodschaukel. Ich sitze am Boden und ich liebe dich. Du sagst: „Meine Aura schaukelt gern“, und das macht Sinn. Ich werde mit meinen olivgrünen Socken begraben und du mit einem Lächeln.
Der Barhocker ist wieder leer, bemerke ich. Die Barkeeperin putzt immer noch Gläser, gelangweilt. Du bist wahrscheinlich etwa vor zwei Minuten aus dem Café gegangen. Komisch, dass du das gemacht hast, sind wir doch eben noch zusammen alt geworden, denke ich, als ich mich wieder meinem Tee zuwende.
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Verantwortlich für die Betreuung der jungen Journalistinnen und Journalisten von „Jugend-schreibt“ ist der Deutsch- und Englischlehrer Remo Federer ([email protected]).
Das Realgymnasium Rämibühl (RG, bis 1976 Realgymnasium Zürichberg) ist ein Langzeitgymnasium. Es ist neben dem Literargymnasium die einzige öffentliche Schule des Kantons Zürich, die einen zweisprachigen Bildungsgang in Verbindung mit dem International Baccalaureate anbietet, wobei die Fächer Geographie, Biologie und Mathematik auf Englisch unterrichtet werden. Zu den berühmten Schülern gehören Max Frisch und Elias Canetti.
Weitere Informationen finden sich auf der Homepage www.rgzh.ch