Die entscheidenden Streitpunkte der Schweizer Politik werden von den Wortführern der politischen Parteien unergiebig hin- und hergeschoben. Taktieren vor den Wahlen ist angesagt. Politische Führerschaft sieht anders aus. Doch warum hören wir so wenig von unseren Lehrkräften an den Hochschulen?
Hektischer Stillstand
Seit Monaten vernehmen wir aus den Medien, im Jahr vor den Parlamentswahlen seien keine engagierten, schon gar keine mutigen Vorstösse zu erwarten. Die Wahlen sind eben wichtiger als Problemlösungen. Besonders ungemütlich ist das Schweigen beim politischen Hauptknackpunkt: unserem Verhältnis zur EU.
Die Mitglieder des Bundesrats wenden und winden sich, bemühen sich in Brüssel und den europäischen Hauptstädten um „Verständnis“. Verständnis für die isolationistische Grundstimmung in Teilen unserer Bevölkerung. Die Frage ist brennend: Teilt eine Mehrheit des Volkes wirklich diese eigenartige, abkapselnde Einstellung? Eine Mentalität, lautstark und flächendeckend propagandiert durch folkloristische Auftritte ihrer SVP-Vertreter? Oder erliegen wir bei dieser Einschätzung einer Täuschung? Wirken diese omnipräsenten „Landesverteidiger“ („Eigenständigkeit in Gefahr!“) nur deshalb als unüberhörbare Wortführer, weil sich andere, wichtige Stimmen vornehm zurückhalten? Weil sie sich zu schön sind, um in die Niederungen der Politik hinabzusteigen?
Eine wichtige Stimme neben Politik und Wirtschaft
Unsere Professorinnen und Professoren sind gefordert. Man wird den Eindruck nicht los, sie hätten zwar etwas zu sagen, scheuten sich jedoch vor unqualifizierten oder gehässigen Reaktionen. Sie erliegen mit dieser Haltung einem unverzeihlichen Missverständnis. Ihr Beitrag zur EU-Debatte kann mitbestimmend sein für unser Land. Ihre Stimme kann die Wahlen im Herbst 2015 entscheidend beeinflussen. Es genügt nicht, wenn einige wenige, bekannte „öffentliche“ Intellektuelle sich im politischen Diskurs einschalten.
Die Unfähigkeit der Schweiz, sich für eine zeitgemässe Rolle innerhalb Europas zu entscheiden, ist statisch und zementiert, während sich die Welt in schnellem Wandel befindet. Übersteigerter Individualismus in diesem Kontext ist unzeitgemäss, wirklichkeitsfremd. Die Schweiz braucht jene Kräfte, denen nicht nur ein politisches, bäuerlich geprägtes Zukunftsbild am Rand der EU vorschwebt. Es braucht ja nicht gleich ein „Komitee gegen den schleichenden Realitätsverlust“ zu sein.
Politik und Wissenschaft
Nach dem Ja zur Zuwanderungsinitiative vom 9. Februar 2014 ging ein zögerlicher Ruck durch einen Teil der Professorenschaft. Realisiert wurde plötzlich, wie stark das politische Geschehen auch hier den Alltag prägt. Was nun mit dem europäischen Forschungsprogramm, ohne dessen Austauschmöglichkeiten ein eigentliches Grounding droht? Die Erkenntnis, dass in der modernen Forschung kein Land im Alleingang erfolgreich sein kann, wirkte wie ein Weckruf im Elfenbeinturm. Mehrere Professoren wurden politisch aktiv.
Doch das genügt nicht. Sich nur dann einzumischen, wenn der eigene Garten auszutrocknen droht, ist zwar ein löblicher Anfang. Die Hochschulen haben die Pflicht, ein wachsames Auge auf die Entwicklungen in der Gesellschaft und der Politik zu werfen. Kritisches Reflektieren gehört ja zum Beruf. Zwar sind auch weitere lokale Ansätze des politischen Sich-einmischens feststellbar, doch werden diese Einzelaktionen in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen. Vielleicht sollte sich ein eigentliches Koordinationsgremium mit einer professionellen, gesamtschweizerischen Kommunikationsplattform bilden?
Die herbeigeredete Gefahr
Die schleichende „Hauptgefahr für die Schweiz, die es unter allen Umständen abzuwenden gilt“, ist nicht, wie es Christoph Blocher in orchestrierten Inseratekampagnen propagandiert, der Rahmenvertrag mit der EU, sondern die Spaltung unseres Landes angesichts seiner Zukunftsplanung. Seit 1992, als die „Mehrheit“ des Volkes (50,3% der Abstimmenden) oder 39.6% der Stimmberechtigten auf die Schalmeiengesänge gefährdeter Souveränität und Volksrechte hörte, hat sich ein Graben durch die Schweiz geöffnet, ein Anti-EU-Graben. Dieser ist eigentlich eine künstliche, herbeigeredete Verwerfung – es ging ja gar nie um den EU-Beitritt.
Unkräuter der Propaganda
Propaganda beeinflusst unser Denken. Unablässige propagandistische Wiederholungen von (eingebildeten) Gefahren bleiben nicht ohne Auswirkungen im Alltags-Denken vieler Menschen. Bertrand Russel hat schon im letzten Jahrhundert gemahnt: „Denn wo unabhängiges Denken abstirbt […] wuchern ungehindert die üblen Unkräuter der Propaganda und des Dogmatismus“.
Und weiter: „Wenn keine lebendige Einheit der Ziele einer Gesellschaft geschaffen werden kann, so drängt sich eine Art langweilige und schwache Gleichförmigkeit der Politik auf. Es ist schade, dass Menschen von Macht und Verantwortung dies so selten wahrhaben wollen“.*
Populismus als Gefahr
Die diesjährige Sommerakademie der Schweizerischen Studienstiftung in Sils Maria stand unter dem Motto „Populismus als Gefahr“. Ziel der Veranstaltung: Erarbeitung einer historisch informierten Perspektive auf die liberale Demokratie im 21. Jahrhundert. Insbesondere der aus den USA angereiste, unermüdliche, 90-jährige Historiker Fritz Stern (Prof. Emeritus Columbia University, New York) fesselte die Teilnehmenden mit seinem vom persönlich Erlebten geprägten Geschichtsbild aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland.
Sehr Bedenkenswert seine Analyse des Damaligen und die daraus gelernte Schlüssellektion: Zivile Passivität und gewollte Blindheit ergaben ideale Vorbedingungen für den späteren Triumph der NS. „Zivile Passivität und gewollte Blindheit“, diese Erkenntnis – immer auf Deutschland bezogen – die Geschichte liefert eine eindrückliche Lektion: die Fragilität unserer Demokratien, die Fatalität ziviler Passivität oder Gleichgültigkeit: im Nachhinein wäre jene Entwicklung wohl nicht unvermeidbar gewesen.
Neue Bilder malen
Wer die Köpfe der Menschen gewinnen will, darf nicht schweigen. Zweifellos wären an dieser Stelle Hochschullehrende in der Lage, Geschichten zu erzählen. Solche überzeugende Beiträge (nicht wissenschaftliche Papers) sind in den hausinternen Printmedien der UNI/ETH immer wieder zu finden. Doch in der aktiv bestimmenden Wählergruppe bei eidgenössischen Abstimmungen und Wahlen sind leider Studierende eine kleine Minderheit.
Diese andere Botschaft hätte nicht den Anspruch, das einzig richtige oder mögliche Weltbild zu verkünden. Die geballte Kraft der Hochschullehrenden müsste aber in der Lage sein, fachspezifische Orientierungshilfe, wertvolles Wissen und intelligente Lösungsvorschläge zu liefern und dies alles einer breiten Öffentlichkeit verständlich zu machen. Einprägsame Bilder zu malen, die eine weltoffene Kraft des politischen Gestaltens symbolisierten und dabei nicht zu akademisch tönten. Eine moderne Interpretation von „Sicherheit“, basierend auf realen Gefährdungen, zu beschreiben, den Klimawandel zu thematisieren, über das Verhältnis der Schweiz zur EU nachzudenken.
Dies würde dazu beitragen, ein optimistisches, offenes Bild zu entwerfen, wie unser Land auf die drängendsten Herausforderungen der Zeit reagieren könnte.
Der Entscheid läge dann immer noch bei den Abstimmenden. Doch diese hätten dann – neben einem Strauss gegensätzlicher parteipolitischer Empfehlungen – plötzlich eine qualitativ verbesserte Auswahl.
*Literatur
Bertrand Russel: „Denker des Abendlandes“, (2005)
Weiterführend
(Fritz Stern, „A fundamental History Lesson“)
http://inthesetimes.com/article/2341*