Frage: Elena Milaschina, Sie arbeiten als Journalistin für die „Nowaja Gaseta“. Waren sie enger bekannt mit Anna Politkowskaja, die vor vier Jahren in Moskau ermordet wurde? Und hatten sie auch Kontakt zu der in Tschetschenien tätigen Menschenrechtsaktivistin Natalja Estemirowa, die im vergangenen Jahr erschossen worden ist und vor drei Jahren hier in Zürich von Human Rights Watch geehrt wurde?
Anna Politkowskaja kannte ich als Bürokollegin in der Redaktion von „Nowaja Gaseta“. Mit Natalja Estemirowa hingegen war ich eng befreundet. Wir hatten oft miteinander zu tun, da ich als Mitarbeiterin von „Nowaja Gaseta“ längere Zeit im Kaukasus lebte und arbeitete.
Abgesehen von den beiden erwähnten Kolleginnen gibt es in Russland häufig Überfälle auf unbequeme Journalisten. Von "Nowaja Gaseta" wurden in den letzten Jahren insgesamt fünf Mitarbeiter ermordet. Erst vor ein paar Tagen ist der bekannte Reporter und Blogger Oleg Kaschin übel zusammengeschlagen worden. Macht ihnen das nicht Angst bei Ihrer Arbeit?
Nein, ich spüre keine besondere Angst, wenn wieder Kollegen attackiert werden. Vielleicht hat das damit zu tun, dass mir bewusst ist, mir könnte jederzeit Ähnliches passieren, auch wenn ich nicht als Journalistin arbeitete.
Wann waren sie zuletzt in Tschetschenien – und ist dort die Menschenrechtsorganisation „Memorial“ weiterhin präsent wie vor der Ermordung Estemirowas?
Zuletzt war ich im September in Grosny. Es gibt zwar formell wieder ein „Memorial“-Büro in der tschetschenischen Hauptstadt, aber es ist nur noch sporadisch geöffnet und viel weniger aktiv als unter der Leitung von Estemirowa.
Das im zweiten Tschetschenienkrieg zerstörte Grosny ist inzwischen ja weitgehend wieder aufgebaut worden. Hat sich mit dieser Aufbauarbeit auch das Leben der tschetschenischen Bevölkerung zum Besseren gewendet?
Für die Menschen dort ist es natürlich ein wirklicher Fortschritt, dass wenigstens der offene Krieg beendet ist und dass sie wieder unter einem festen Dach leben können. Aber gleichzeitig sind die Menschen auch verschlossener und misstrauischer geworden, sie reden kaum über den Krieg. Und sie wissen, es kann unter dem Regime des Machthabers Ramsan Kadyrow jederzeit willkürliche Hausdurchsuchungen und Verhaftungen geben. Aber sie wissen auch, dass die Welt sich kaum noch um Tschetschenien kümmert. Es herrscht ein Grundgefühl von Resignation und man hält den Mund besser geschlossen.
Nachdem der Journalist und Blogger Oleg Kaschin letzte Woche in Moskau zusammengeschlagen worden ist, hat Präsident Medwedew eine gründliche und schnelle Aufklärung verlangt. Werden solche Erklärungen irgendwelche Wirkung haben oder bleibt auch dieses Verbrechen ungeklärt wie viele andere Überfälle auf Journalisten?
Die Frage verweist auf die spezifischen Verhältnisse in Russland. Würden Sie in Ihrem Land bei einem Verbrechen fragen, ob der Präsident für dessen Aufklärung sorgen werde oder nicht?
Das wäre ja nicht von ihm abhängig, sondern läge in den Händen der Justiz.
Eben. Aber in Russland ist alles anders. Ich denke, Medwedew wünscht tatsächlich, dass diese Journalisten-Morde und Überfälle und andere Verbrechen aufgeklärt und gesühnt werden, aber er kann das nicht durchsetzen.
Und wenn Putin mit ihm am gleichen Strick ziehen würde?
Nein, auch dann nicht. Russland ist ein riesiges Land, inzwischen sogar mit gewissen demokratischen Ansätzen. Aber niemand kann in diesem Land durchsetzen, dass die Institutionen zuverlässig funktionieren. Die Institutionen und die dazugehörigen undurchschaubaren Bürokratien wollen gar nicht effizient funktionieren. Und zwar deshalb, weil diese Gebilde im Innersten vom Bewusstsein durchdrungen sind, dass sie mehr Geld und mehr Privilegien herausschlagen können, wenn sie keine praktischen Resultate liefern, sondern alles verschleppen und verzögern.
Denken Sie, dass Putin bei den Präsidentschaftswahlen 2012 wieder kandidieren und Medwedew als Staatschef ablösen wird?
Ja, ich fürchte, es wird dazu kommen. Und das kann weder für Russland noch für Putin gut sein. Denn bei einer weiteren Amtszeit wird er das Land nicht mehr stabilisieren und voranbringen können, wie er das in seiner ersten Amtszeit nach Ansicht der meisten Russen getan hat. Dass Putin abgeklärt genug ist, dies zu erkennen und deshalb auf eine weitere Amtszeit nach 2012 zu verzichtet, halte ich für sehr zweifelhaft.
„Nowaja Gaseta“, bei der Sie mitarbeiten, ist von einer staatlichen Aufsichtsbehörde verwarnt worden, weil sie einen Artikel über eine faschistische Organisation mit dem Namen „Russki Obraz“ (Russisches Bild) veröffentlicht hat, mit entsprechender Dokumentation. Die Verwarnung unterstellt in absurder Weise, die Zeitung habe damit rechtsextremistische Propaganda verbreiten wollen. Diese Verwarnung ist zwar noch nicht definitiv rechtskräftig. Aber nach einer zweiten Verwarnung müsste laut Gesetz die Publikation eingestellt werden. Könnte es Ihrer Ansicht nach eines Tages soweit kommen?
Das wäre für die Regierung und ihr Ansehen – vor allem im Ausland – ein beträchtlicher Schaden. Ich glaube nicht, dass die politische Führung bei dieser Geschichte unmittelbar die Hände im Spiel hat. Das haben eher irgendwelche übereifrigen Bürokraten angestossen – vermeintlich um den Chefs im Kreml einen Gefallen zu tun.
Wie gross ist die Auflage von „Nowaja Gaseta“?
Die Auflage beträgt ungefähr 200 000 Exemplare und wir schätzen, dass wir im von etwa einer Million Menschen gelesen werden. Gemessen an der Gesamtbevölkerung von gut 140 Millionen ist das bescheiden.
Zur Person: Elena Milaschina ist 1978 im Fernen Osten in der Nähe von Wladiwostok geboren, wo sie auch einen Teil ihrer Kindheit verbrachte. Später lebte sie mehrere Jahre bei ihren Grosseltern in Usbekistan. Sie studierte rund anderthalb Jahre in den USA und spricht deshalb fliessend Englisch. Seit 13 Jahren ist sie Mitarbeiterin von „Nowaja Gaseta“.