Seit Jahrhunderten treffen sich Kunst und Medizin. In einer bunt aufgefächerten Schau geht das Kunsthaus Zürich den Überschneidungen nach. Schwerpunkte sind die medizinischen Errungenschaften des 19. Jahrhunderts und künstlerische Auseinandersetzungen mit Körper und Krankheit.
Die hagere nackte Frau windet sich auf ihrem Bett im «Hysterischen Bogen»: An den Anfang der Ausstellung «Take Care – Kunst und Medizin» setzt Kuratorin Cathérine Hug Louise Bourgeois’ grosse Bronzeskulptur «Arched Figure» von 1993. Unmittelbar daneben zeigt Fra Angelicos kleine Predella-Malerei, wie die heiligen Ärzte Cosmas und Damian den Diakon Giustiniano heilen (um 1435). Von links blickt der Gipsanguss einer Hippokrates-Büste auf das Geschehen. Fra Angelicos Bild stammt aus der Sammlung des Kunsthauses Zürich, Bourgeois’ Skulptur ist eine Leihgabe aus Jerusalem. Hippokrates – als Persönlichkeit, Arzt und Wissenschafter Anfangs- und Angelpunkt der Medizingeschichte – gehört der Archäologischen Sammlung der Universität Zürich.
Medizin, Krankheit, Heilung sind die Themen der Ausstellung mit rund 300 Katalognummern. Sie ist auch aus hauseigenen Beständen alimentiert, führt aber mehrheitlich Leihgaben aus ganz Europa zusammen und bezieht überdies medizinhistorische Objekte mit ein. Das alles ergibt eine grosse, abwechslungsreiche und bunte thematische Schau, die weniger eine schlüssige These ausformulieren als vielmehr in einem assoziativen Rundgang durch die komplexen inhaltlichen Bezüge zu eigenen Reflexionen, Vergleichen und Abwägungen anregen will.
Das geschieht in sechs Kapiteln, deren Abgrenzungen allerdings durchlässig sind. So geht es um das «Goldene Zeitalter der Medizin» und seine Errungenschaften im 19. Jahrhundert, um die grossen Seuchenzüge und ihren Niederschlag in der Kunst, um den «diagnostischen Blick» und das Spitalwesen, um Heilmittel und Forschung, um Prophylaxe und Komplementärmedizin und endlich auch um Künstlerlinnen und Künstler, die sich aus eigener Betroffenheit mit der Grenze zwischen «idealem» (gesundem) und eigenem (krankem) Körper beschäftigen.
Die Grenzen sind durchlässig: Wer die fast labyrinthisch angeordneten Räume mit Bildern, Skulpturen, Videos und zahlreichem in Vitrinen ausgebreitetem Dokumentationsmaterial durchstreift, wird sich kaum immer bewusst sein, in welcher Abteilung er sich gerade befindet. Man mag da, statt strenge Systematik aufzubauen, eher dem spontanen Flaneur vertraut haben, der seinen Blick auf dieses oder jenes richtet und eben auswählt, um nicht hoffnungslos überfordert zu sein. Mit anderen Worten: Je nach Disposition und Vorwissen der Besucherinnen und Besucher nimmt der Gang durch den Saal seinen individuellen Weg. Wer hier seine Überraschungen erlebt, stellt dort vielleicht Fragen, die unbeantwortet bleiben. Wer hier Neuland entdeckt, registriert dort vielleicht Banales oder allzu Bekanntes.
Dokumenntierende Kunst
So beruhen auch die folgenden Streiflichter auf persönlichen Eindrücken, die keinen Anspruch auf Repräsentanz oder gar Vollständigkeit geltend machen wollen, was ja erklärtermassen auch auf Cathérine Hugs Auswahl zutrifft. Betont sei aber das grosse Verdienst dieser Themenschau, auch Werke und Tendenzen ins Rampenlicht zu rücken, die nicht zum allseits bekannten und trendbestimmten Kulturgut unserer Tage gehören.
Zum Beispiel: Der französische Arzt Georges Chicotot (1865–1921) war ein Pionier, der diese seine Qualifikation gleich selber im Bilde festhielt. Er absolvierte neben seinem Medizinstudium auch eine Ausbildung als Maler. Als Facharzt experimentierte er mit Röntgenstrahlen zur Therapie von Brustkrebs, was er in einer soliden und akademisch anmutenden Malerei im Jahr 1909 vor Augen führte. Die Überraschung für uns heute sind nicht Chicotots malerischer Retro-Stil, das umfangreiche technische Gerät, das dem Arzt zur Verfügung steht, oder der Zylinder, den Chicotot zur Arbeit trägt. Wir staunen über den Umstand, dass weder Patientin noch behandelnder Arzt irgendeinen Strahlenschutz anwenden: Auch in dieser Hinsicht ist das Bild ein Zeitzeuge – und eine Entdeckung.
Eher ungewohnt ist auch ein weiteres Werk an der Schnittstelle von Kunst und Medizin: 1920 hielt der französische Maler Edmond Suau (1871–1929) im Bild fest, wie Ärzte im Körper eines Kriegsverletzen mittels Röntgenstrahlen ein Projektil orten. Brav-professionelle Salonmalerei dient da, so paradox das klingt, der Dokumentation fortschrittlicher, hoch technisierter Medizin.
Eine Entdeckung für einen Grossteil des Publikums ist sicher auch Adolf Fleischmann (1892–1968). Der deutsche Hölzel-Schüler, der sich nach expressiven Anfängen im Spätwerk Konstruktivistischem zuwandte, arbeitete in den 1920er Jahren in Zürich als Moulageur (Moulagen sind farbige dreidimensionale und lebensgrosse Abformungen von Körperteilen zur naturnahen Wiedergabe menschlicher Krankheitsbilder) und wissenschaftlicher Zeichner im Bereich der Histologie. Ob das nur Lohnarbeit war? Zu vermuten ist eher, dass Fleischmann ein Grenzgänger war, den die exakten Anforderungen an den wissenschaftlichen Zeichner ebenso faszinierten wie das höchster Präzision verpflichtete konstruktive Element in seiner freien Malerei.
Auch die 1970 in St. Petersburg geborene, in Österreich lebende Video- und Installationskünstlerin Anna Jermolaewa überrascht mit der dreiteiligen Lichtboxen-Skulptur «Mediceische Venus» (Bild ganz oben): Sie zeigt aus drei verschiedenen Blickwinkeln ein berühmtes wächsernes Anatomiemodell einer Schwangeren aus dem Jahr 1785, die sich im Josephinum in Wien befindet. Auch da gibt es eine erstaunliche Überschneidung von medizinischem und künstlerischem Vorgehen: Auf einem Bild machen sich Hände in blauen Handschuhen im offenen Leib der Frau zu schaffen. Man denkt an Hände eines Chirurgen, doch in Wahrheit ist eine mit der Präzision des Chirurgen arbeitende Restauratorin am Werk.
Heilung mittels Kunst
Richtig unter die Haut gehen können jene Exponate, in denen Künstlerinnen ihre physischen Beeinträchtigungen zum Ausgangspunkt ihrer Arbeit nehmen. Dazu zwei Beispiele: Panteha Abareshi (geboren 1999 in Montreal) leidet seit ihrer Geburt an einer Blutkrankheit. In ihrem Werk zeigt sie, wie sie damit umgeht. Ähnlich Michelle Miles (geboren 1998 in Houston): Sie thematisiert in Videos ihre progressive Muskelatrophie und stellt so die Frage nach «Normalität» oder «Dysfunktionalität» des Körpers und nach Sinn und Unsinn jener Ansprüche, welche die Gesellschaft an das Erscheinungsbild des Menschen stellt. Künstlerische Arbeit mag hier (auch) der Selbstheilung dienen. Anders die amerikanische Tänzerin Anna Halprin (1920–2021), die, wie Ruedi Gerbers Dokumentarfilm zeigt, mit Krebs-Patientinnen und -Patienten arbeitete und auf die (selbst-)heilenden Kräfte des Tanzes und der Körperbewegung allgemein setzte.
Damit ist die Frage nach möglicher Heilungskraft der Kunst im Ausstellungskonzept bereits erschöpft. Das ist schade. Mal- oder Farbtherapien sind wohl kaum vollständig im Kunstkontext anzusiedeln, doch dem Thema Kunst-Erleben und Krankheit widmen sich nicht nur Therapeuten oder Esoteriker wie der «Geistheiler» Sananda aus dem Thurgau, auf den man bei Recherchen zum Thema bald einmal stösst, sondern auch ernsthafte Fachleute, die mit entsprechenden Programmen an anerkannten Kliniken arbeiten. Vor allem liesse sich hier auch ein Fenster öffnen zum Thema Kunst und Psychiatrie.
Schwerpunkte ohne Notwendigkeit
Natürlich ist, wer eine Ausstellung zu so komplexen Themen erarbeitet, zum Ausscheiden gezwungen. Vollständigkeit gibt es nicht. Irgendwo muss ja – soll das Publikum nicht völlig überfordert werden – Schluss sein. Und so sind Werkwahl und Themensetzungen Cathérine Hugs auch persönlich bedingt und Zufällen unterworfen.
Die Ausstellung setzt aber auch Schwerpunkte, wo man sie kaum vermutet und wo sie kaum nötig sind. Martin Kippenberger (1953–1997) zum Beispiel bekommt mit acht Werken ein Gewicht, wie es der «Bad Boy» der Kunst, der seine Suchtkrankheit in seine ungestüme künstlerische Praxis einbezog, im Rückblick kaum verdient.
Auch Manon kommt mit vier installativen Werken wohl zu ausführlich zu Wort, zumal sie zu ihrem Achtzigsten viel Beachtung fand und findet, wie just jetzt in der Fotostiftung Schweiz in Winterthur. «Sarah Bernhardt’s Leg» allerdings möchte man in der Ausstellung nicht missen – auch als Hinweis auf körperliche Risiken, mit der die Kunst durchaus verbunden sein kann: Die Schauspielerin litt, als Folge eines Sturzes auf der Bühne, unter so grossen Knie-Problemen, dass eine Beinamputation unumgänglich wurde und sie letzte Auftritte im Rollstuhl absolvierte.
Neben Entdeckungen von eher Unbekanntem bietet «Take Care» auch mancherlei Selbstverständliches oder gar Banales. Dazu zählen die vielen Ex Votos, mancherlei Moulagen, die zahlreichen Beispiele aus Einsiedelns Wachsindustrie, die Lehrstücke für Medizinisches feilbot, oder die Plakate der wohl erfolgreichen und höchst professionellen, aber zur Genüge bekannten AIDS-Kampagne des BAG. Auch wollte man Hodlers Beschäftigung mit dem Tod von Valentine Godé-Darel nicht links liegenlassen. Offenbar ging es darum, mit Erinnerungen an Bekanntes das Unternehmen breit aufzustellen und dem Publikum möglichst viele Gelegenheiten zu Identifikation und Wiedererkennen zu bieten.
Kunsthaus Zürich: Take Care – Kunst und Medizin, bis 17. Juli
Katalog mit vielen Essays und Interviews zum Thema