Derselbe Text kann aber auch als eine Interpretationshilfe gelesen werden, die den Zugang zum fiktiven Werk des Schriftstellers erleichtert. Max Frischs Tagebuch 1946-1949 ist aber zugleich eine geschichtliche Quelle. Sie gibt Auskunft über einen bestimmten Ausschnitt des Zeitgeschehens, wie er vom Autor durchlebt und beschrieben worden ist.
Das Beispiel der Familie Mann
Konkret: Max Frischs Tagebuch zeigt, wie ein junger Mann, Bürger der kriegsverschonten Schweiz, die Realität des vom Krieg betroffenen Nachbarlandes Deutschland nach 1945 wahrgenommen und reflektiert hat. Nun fehlt es nicht an Aufzeichnungen von deutschen Emigranten, die nach Kriegsende ihre Heimat aufsuchten und über ihren Eindruck berichteten.
Wie verschieden diese Wahrnehmung sein konnte, zeigt das Beispiel der Familie von Thomas Mann. Der berühmte Schriftsteller hatte sich im amerikanischen Exil sein eigenes Deutschlandbild geschaffen, das mit dem Deutschland, in das er zurückkehrte, nicht mehr in Übereinstimmung zu bringen war; deshalb wich er in die Schweiz aus.
Bei Thomas Manns Tochter Erika schlug die belastende Erinnerung an Hitler-Deutschland in ein tief sitzendes Ressentiment um, das sie nie überwand. Ihr Bruder Golo bemühte sich redlich um Versöhnung und trat dem weit verbreiteten Pauschalurteil von der deutschen Kollektivschuld mit Entschiedenheit entgegen; aber auch er konnte traumatische Erinnerungen nie ganz verdrängen.
Thomas Manns Bruder Heinrich schliesslich hatte sich während der Emigration in das Traumbild eines sozialistischen Deutschland unter sowjetischer Führung geflüchtet; sein Tod kurz vor der geplanten Rückkehr in die DDR ersparte ihm die Desillusionierung.
Anfänge als unpolitischer Mensch
Von Schweizer Autoren besitzen wir nur wenige Zeugnisse über ihre Auseinandersetzung mit Nachkriegsdeutschland, und Max Frischs Tagebuch 1946-1949 dürfte das eindrücklichste sein. Vor dem Weltkrieg hatte sich der Schriftsteller nur eine oberflächliche Kenntnis unseres nördlichen Nachbarlandes verschaffen können, und die Machtübernahme durch die Nationalsozialisten hat in seinem journalistischen Frühwerk kaum Spuren hinterlassen.
Als er im Jahre 1930 in Zürich ein Germanistikstudium begann, neigten seine Professoren dazu, den Beruf des Schriftstellers mit einer Aura zu umgeben, die diesen weit über die Niederungen der Politik hinaushob. Max Frisch teilte diese Auffassung; er war zu dieser Zeit, wie er später missbilligend bemerkte, ein unpolitischer Mensch. Gewiss lehnte er den Nationalsozialismus und dessen schweizerische Ausprägung, den Frontismus, ab; aber Fragen der künstlerischen Selbstverwirklichung beschäftigten ihn stärker als das Geschehen in Deutschland.
Patriotisch gesinnter Soldat
Im Jahre 1936 begann Frisch an der ETH Architektur zu studieren - zur selben Zeit, als Hitlers Truppen ins entmilitarisierte Rheinland einmarschierten. Als Journalist vertrat Frisch damals den Standpunkt der „Geistigen Landesverteidigung“ und sah in der Landesaustellung von 1939 den überzeugenden Ausdruck schweizerischen Widerstandswillens. Zugleich hielt er am Gedanken der Einheit des deutschsprachigen Kulturraums fest und hütete sich vor selbstgerechter und pauschaler Kritik.
Während des Krieges leistete der Schriftsteller als Kanonier seinen Aktivdienst und verfasste die Blätter aus dem Brotsack, Aufzeichnungen aus dem Alltag eines zwar unbegabten, aber doch patriotisch gesinnten Soldaten. „Ich verweigerte mich“, schrieb er später, „jedem Zweifel an unserer Armee.“ Bis zum Kriegsende schwankte Frisch zwischen den Berufen des Architekten und des Schriftstellers: Er erstellte die Freibadanlage Letzigraben in Zürich, und er verfasste das Bühnenstück "Nun singen sie wieder", das eine Begebenheit aus dem Krieg zum Gegenstand hat und im Zürcher Schauspielhaus uraufgeführt wurde.
Skizzen aus dem zerstörten Deutschland
Nach dem Krieg bereiste Max Frisch verschiedentlich Deutschland und setzte sich mit seiner jüngsten Geschichte auseinander. Das Land war von den Alliierten besetzt, die grossen Städte lagen in Trümmern, die Menschen kämpften ums Überleben. Schon zeichnete sich am Horizont, vom Schriftsteller mit Sorge wahrgenommen, der Kalte Krieg ab. Max Frisch reist als ein aufmerksamer Beobachter, dem das Ausmass der deutschen Katastrophe in materieller und moralischer Hinsicht nicht verborgen bleibt.
Zugleich ist er sich bewusst, das ihm, dem Ausländer und dem Verschonten, der die schlimme Erfahrung der Diktatur nicht hat machen müssen, ein vorschnelles und pauschales Urteil nicht zusteht. Er berichtet sachlich, mehr registrierend als schildernd, über Städte wie München, Frankfurt, Berlin oder Breslau, die zu Ruinenlandschaften geworden sind. Er hält skizzenhaft die Begegnungen mit Menschen, mit Überlebenden fest, die alles verloren haben. „Man hält die Feder hin“, schreibt Frisch, „wie eine Nadel in der Erdbebenwarte, und eigentlich sind nicht wir es, die schreiben, sondern wir werden geschrieben.“
Ein "Urwald von Schicksalen"
So entstehen präzis festgehaltene Impressionen, die im Gedächtnis des Lesers haften bleiben. Zum Beispiel bei Frischs Besuch in einem Konzentrationslager, wo man förmlich spürt, wie der Autor das Entsetzen durch den Realismus der Beschreibung zu bannen sucht: „Endlich kommen wir an den letzten Ort. Wir stehen vor den Urnen. Es ist das erste Mal, dass ich die menschliche Asche sehe; sie ist grau, aber voll kleiner Knöchelchen, die gelblich sind. Die Urnen sind aus Sperrholz, neuerdings, während das deutsche Modell, das wir in die Hand bekommen, einfacher und sparsamer war, eine Tüte aus starkem Papier, jede mit einer handschriftlichen Nummer versehen, wenn sie gefüllt ist.“
Schwierig und kompliziert war die Beziehung zu den Menschen. Max Frisch ist weit davon entfernt, in den Kategorien von Schuld und Sühne zu denken, und die damals bei Ausländern weit verbreitete Vorstellung einer deutschen Kollektivschuld ist ihm fremd. Er spricht vielmehr von „einem Urwald von Schicksalen“ und einer „Flut von Eindrücken“ und stellt fest: „... es gibt keine Deutung, nur Geschichten, Anblicke, Einzelnes.“ Der Schriftsteller hört zu, aber er richtet nicht. Immer bleibt ihm bewusst, dass er ein Mensch gleicher Kultur, Teilhaber und Mitverantwortlicher des gleichen geistigen Erbes ist.
Die Versuchung des Vergessen und Verdrängens
Zuweilen kommt es zu Gesprächen, in denen beide Seiten sich im tröstlichen Einverständnis finden. „Es gibt einzelne“, schreibt Frisch, „die uns jede Grenze vergessen lassen; man sitzt sich nicht als Deutscher und als Schweizer gegenüber; man ist dankbar, dass man die gleiche Sprache hat, und schämt sich jeder Stunde, da man diese einzelnen vergessen hat.“ Weit häufiger aber begegnet er dem Typus des Nachkriegsdeutschen, der den Schweizer dazu nötigen möchte, die Rolle des Richters zu übernehmen: „Die Mehrzahl freilich sind solche, die diese Versuchung wieder beschwören, die sich rechtfertigen und uns, ob wir wollen oder nicht, zum Richter setzen, der freisprechen soll, und wenn wir uns dazu nicht entschliessen können, oder schweigen oder an gewisse Dinge erinnern, die man nicht vergessen darf, trifft uns der stumme oder offene Vorwurf, dass wir richterlich sind.“
An gewisse Dinge erinnern, die man nicht vergessen darf. Ausserordentlich früh hat Max Frisch erkannt, was in Deutschland erst mit dem Generationenwechsel der sechziger Jahren ins allgemeine Bewusstsein getreten ist: dass Vergessen, Verdrängen und Beschweigen der nationalsozialistischen Katastrophe nicht die Lösung sein kann. „Leider ist es ja so“, schreibt er im Tagebuch, „dass das Geschehene, noch bevor es uns wirklich und fruchtbar entsetzt hat, bereits überdeckt wird von neuen Untaten, die uns in einer willkommenen, einer fieberhaften und mit verdächtigem Eifer geschürten Empörung vergessen lassen, was Ursache und Folge ist; nicht nur in Deutschland, auch bei uns reden wir gerne vom Heute, als stünde kein Gestern dahinter.“
Bildung ist kein Schutz vor dem Bösen
Und er fährt fort: „...aber einmal muss das Entsetzen uns erreichen – sonst gibt es kein Weiter.“ Eine ungemein wichtige Aussage, eine Aufforderung zum selbstkritischen Umgang mit der Vergangenheit. Deutschland ist denn auch, zögerlich und nicht ohne Mühe, dieser Aufforderung nachgekommen, und dieses Geschichtsverständnis ist zu einem wichtigen konsolidierenden Faktor in der Entwicklung der Bundesrepublik geworden.
Eine weitere Einsicht von Frischs Tagebuch besteht darin, dass Fatales, wie es in Deutschland geschah, unter entsprechenden Bedingungen auch anderswo, auch in der Schweiz, hätte geschehen können. Es gibt kein Präventivmittel, kein Arkanum, welches vor dem Bösen, das im Wesen des Menschen angelegt ist, sicheren Schutz bieten könnte. Auch Bildung gewährt keinen solchen Schutz. „Zu den entscheidenden Erfahrungen“, schreibt Frisch, „die unsere Generation, geboren in diesem Jahrhundert, aber erzogen noch im Geiste des vorigen, besonders während des Zweiten Weltkrieges hat machen können, gehört wohl die, dass Menschen, die voll sind von jener Kultur, Kenner, die sich mit Geist und Inbrunst unterhalten können über Bach, Händel, Mozart, Beethoven, Bruckner, ohne weiteres auch als Schlächter auftreten können; beides in gleicher Person.“
Wer sich nicht mit Politik befasst
In seinem ersten Tagebuch ist Max Frisch zum politischen Schriftsteller geworden, der er bis zu seinem Tode war. „Wer sich nicht mit Politik befasst“, schreibt er, „hat die Parteinahme, die er sich sparen möchte, bereits vollzogen: Er dient der herrschenden Partei.“
Max Frisch ist vor hundert Jahren, am 15. Mai 1911, in Zürich geboren. Viele Gazetten haben aus diesem Anlass über den Schriftsteller berichtet, prominente Leser haben sich zu seinem Werk geäussert, oft bewundernd, zuweilen auch kritisch. Es gibt Kenner, die Frischs Tagebücher von 1946 bis 1949 und von 1966 bis 1971 zu den bedeutendsten Werken deutscher Literatur im 20. Jahrhundert zählen. Der Historiker kann sich dieser Auffassung durchaus anschliessen.