Massendemonstrationen, um die herrschende Regierung zu Fall zu bringen, sind Mode geworden. Sie begannen im westlichen Teil der arabischen Welt und ziehen seither weiter nach Osten. Zurzeit gibt es neue Massenproteste in Jemen und Pakistan. Sie dienen dazu, die radikale Unzufriedenheit der Bevölkerung, oder doch grosser Teile von ihr, mit ihren Regierungen zum Ausdruck zu bringen. Mit Handys und via Facebook und Twitter können solche Massendemonstrationen schnell organisiert werden.
Die konkreten Umstände, um die es geht, sind von Land zu Land verschieden. Die angewandten Methoden passen sich auch der spezifischen Lage in jedem Land an. Alle Regierungen in jenen Ländern, in denen die grossen Massen darben und von einer korrupten Oberschicht ausgebeutet werden, haben mit solchen Massenprotesten zu rechnen.
Verzögert oder verhindert können solche Massenbewegungen nur dann, wenn das Regime über schlagfertige Sicherheitskräfte und Geheimdienste verfügt. Das kann, wie in Syrien, zu einem Bürgerkrieg führen. Wenn er, wie in Syrien, lange Zeit dauert, hat er derart katastrophale Folgen, dass die ursprünglichen Gründe des Aufstandes in den Schatten gestellt werden.
Die Zaiditen benützen Benzinpreisanstieg
In Jemen sind es die Huthi, die eine neue Protestwelle ausgelöst haben. Sie haben ihre guten Gründe, um gegen die Regierung aufzubegehren. Die Subventionen der Brennstoffe sind gestrichen worden. Damit haben sich Benzin- und Gaspreise verdoppelt. Wegen der steigenden Transportkosten werden auch alle Lebensmittel teurer.
Jemen ist ein Land, in dem die Hälfte der Bevölkerung unter der Armutsgrenze lebt, weitere grosse Bevölkerungsteile knapp darüber. Für viele bedeuten die Preissteigerungen den Schritt von der Armut in den Hunger. Die Empörung der Bevölkerung ist daher gross.
Autonomie gefordert
Die Huthis haben weite Teile der Bevölkerung der Hauptstadt Sanaa mobilisiert. Sie fordern, dass die Erhöhung der Brennstoffpreise rückgängig gemacht wird. Doch die Huthis wollen mehr. Sie kämpfen seit vielen Jahren in Nordjemen in verlustreichen Kriegen gegen die jemenitische Regierung und fordern Autonomie. Darunter verstehen sie „Selbstregierung der Zaiditen“. Diese sind eine Religionsgemeinschaft der schiitischen Branche des Islams. Ihre Imame haben bis 1962 Jemen regiert, allerdings mit Zwischenperioden in der langen jemenitischen Geschichte, in denen sunnitische Dynastien in Teilen des Landes die Macht inne hatten. Kerngebiet des Zaidismus sind die nördlichen Bergprovinzen Jemens mit der Stadt Saada, die auch heute wieder von den zaiditischen Huthis beherrscht wird. Am jemenitischen „Nationalen Dialog Kongress“, der das ganze Jahr 2013 hindurch dauerte und alle Kräfte des Landes zusammenbringen sollte, waren die Huthis beteiligt.
Zwar war ein Waffenstillstand vereinbart worden. Dennoch wurden während der Verhandlungen zwei der Huthi-Vertreter in Sanaa ermordet. Die bittersten Feinde der Huthis sind die Leute der jemenitischen "Islah“-Partei, in der sich die sunnitischen Muslime und Islamisten zusammenfinden. Hinter "Islah" steht Saudi-Arabien. Die Huthis, so sagen jedenfalls ihre Feinde, werden ihrerseits von Iran unterstützt.
Föderation zum Nachteil der Huthis
Am Ende des „Dialog“-Kongresses und ohne Zustimmung der Huthis wurde Jemen zu einem künftig föderalen Staat erklärt, der aus sechs Teilstaaten bestehen soll. Die Huthis erhielten ihren Teilstaat zugewiesen, die Gegend von Saada, die sie ohnehin beherrschen. Dies akzeptieren sie nicht. Sie erklären, die vorgesehene Staatseinteilung sei so vorgenommen, dass es ausgesprochen arme und reichere Teilstaaten gebe. Der ärmste von allen sei der ihrige. Sie fordern, dass ihr Gliedstaat sich südlich bis auf Sanaa ausdehnen soll. In Sanaa lebten seit jeher Zaiditen. Doch die Hauptstadt Sanaa wächst und wächst und hat auch viele Sunniten angezogen.
Die Kämpfer der Huthis und ihre Verbündeten versuchen jetzt, Gebiete bis nach Sanaa unter ihre Kontrolle zu bringen. Sie sind bereits bis in die Stadt Amran, nicht sehr weit nördlich von Sanaa, gelangt. Ihre Hauptfeinde dabei waren nicht die Regierungstruppen, sondern die islamistischen Kämpfer, die zu "Islah" gehören und die mit ihnen verbündeten Stämme der Wüsten des inneren Jemens. Die Regierungstruppen waren in zwei feindliche Teile gespalten. In Amran kam es zu einem Waffenstillstand mit der Regierung und deren regulären Truppen. Dieser erlaubte es den Huthis, die Stadt zu verlassen, ohne dass sie ihren Feinden in die Hände fiel. Es gelang den Huthi-Kämpfern noch weiter südlich Richtung Sanaa vorzudringen.
Unerfüllte Reformversprechen
Dort haben sie nun zu Massendemonstrationen aufgerufen und Gehör bei grossen Teilen der Bevölkerung gefunden. Die Massendemonstrationen sind jetzt nicht mehr Sache der unorganisiert demonstrierenden Jugend. Die Huthis stehen hinter ihnen. Ihre Anhänger, die nach Sanaa strömen und dort über Lautsprecher zu Demonstrationen aufrufen, sind bewaffnet. Sie schiessen nicht, sagen sie, ausser wenn auf die Demonstranten geschossen würde. Sie fordern, dass die Streichung der Subventionen für Brennstoffe rückgängig gemacht wird. Darüber hinaus verlangten sie den Rücktritt der Regierung mit der Begründung, diese habe nichts getan, um die Beschlüsse der Dialogkonferenz (es gibt über 1000 solcher Beschlüsse) zu verwirklichen. Sie fordern auch eine neue Diskussion über die geplante Föderation und eine Neueinteilung der sechs Teilstaaten.
Die Regierung, deren Rücktritt die Huthis verlangen, ist paritätisch zusammengesetzt aus den Parteigängern des abgesetzten langjährigen Präsidenten, Ali Abdullah Saleh, und den Vertretern der "Islah"-Partei. Präsident Mansur al-Hadi hat dem Chef der Huthis ein Schreiben zugestellt, in dem er ihm Beteiligung an der Regierung vorschlägt. Dies würde bedeuten, dass die Huthis in privilegierten, notablen Kreise aufgenommen werden, die nach wie vor in Jemen die Macht ausüben.
Doch die Huthi-Führer sind schwerlich dazu bereit. Im Augenblick gehen die Demonstrationen in Sanaa weiter. Auch einige Offiziere in Uniform wurden unter den Demonstranten gesehen. Ali Abdullah Saleh liess früher auf die demonstrierenden Massen schiessen. Dies dürfte gegenwärtig keine Option für die herrschenden Kreise sein. Die Huthis ihrerseits sind bewaffnet. Sie würden zurückschiessen. Ob damit ein Bürgerkrieg ausgelöst würde, weiss niemand. Die beruhigende Wirkung, die von dem Dialogkongress ausgegangen war, weil er Hoffnungen auch konstruktive Veränderungen weckte, dürfte allmählich zu Ende gehen, weil die abgesprochenen und versprochenen Reformen auf sich warten lassen.
Angeblich gefälschte Wahlen in Pakistan
In Pakistan sind es zwei Akteure, die die Massendemonstrationen ausgelöst haben: der Oppositionspolitiker Imran Khan mit seiner Partei, die vorwiegend aus jungen Leuten besteht und ein oppositioneller Gottesgelehrter, Dr. Tahrir Qadri mit seinen Anhängern. Sie kämpfen nicht gemeinsam, sondern haben parallel grosse Demonstrationszüge von Lahore nach Islamabad angeführt. Dort belagern die Anhänger beider das Parlament. Sie fordern den Rücktritt der vor einem Jahr gewählten Regierung Nawaz Sharif. Dies ist die erste Regierung in der 67-jährigen Geschichte Pakistans, die durch reguläre Neuwahlen nach dem Ablauf der vollen Regierungszeit einer vorausgegangenen gewählten Regierung an die Macht gelangte. Die Anführer der Grossdemonstrationen begründen ihre Forderung mit der Behauptung, die Regierung Nawaz Sharif sei mit betrügerischen Methoden gewählt worden. Doch diesen Einwand erheben sie erst nach dem Verlauf des ersten Regierungsjahrs der gewählten Regierung. Ihr Vorwurf, das Regime sei korrupt, steht auf festeren Füssen. Doch um konkret welche Art von Korruption es sich handelt, ist unklar.
Was die Massen der Demonstranten bewegt sind oft handgreiflichere Gründe, wie etwa die beständigen Elektrizitätspannen, die nicht nur die privaten Haushalte, sondern auch die Industrie schädigen. Auch die Unsicherheit durch die häufigen Selbstmordattentate der pakistanischen Taliban und ihrer Komplizen sind ein Grund ihrer Proteste. Nawaz Sharif hatte in der Wahlkampagne versprochen, solche Missstände "sofort" zu beenden, doch er hat das bis jetzt nicht fertig gebracht.
Die Armee auf Seiten der Demonstranten?
Die pakistanische Regierung hat die Armee aufgefordert, für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Dies, nachdem die Polizei, die den Auftrag hatte, die Demonstranten in Schach zu halten, dies nicht getan hatte. Die Protestierenden setzten Krane ein, um grosse Container auf den Strassen wegzuräumen. Mit solchen Containern hatte die Polizei die Innenstadt abgesperrt. So sollte verhindert werden, dass die Demonstranten ins Stadtzentrum vordringen. Die Polizei sah zu, wie die Container weggeräumt wurden. Die Demonstranten marschierten darauf bis vor das Parlament, vor dem sie nun lagern. Die Armee, von der Regierung zum Schutz aufgerufen, erklärte, Regierung und Demonstranten sollten verhandeln. Viele Beobachter, die von Beginn an vermutet hatten, die Armee könne hinter den Demonstranten stehen, sehen sich durch die versöhnliche Haltung der Streitkräfte in ihrer Einschätzung bestätigt.
Ruf nach Neuwahlen
Nachdem nun acht Tage lang demonstriert wurde, haben Verhandlungen tatsächlich begonnen. Imran Khan fordert den Rücktritt der Regierung und eine neutrale Übergangsregierung. Er verlangt die Bildung einer neuen Wahlkommission. Ferner soll geprüft werden, ob und wie die letzten Wahlen gefälscht wurden. Dann sollen Neuwahlen angesetzt werden.
Die Zeit spielt nicht zugunsten der Demonstranten. Es ist Zeit des Monsuns. Die Demonstranten lieben es nicht, in den durchnässten Strassen zu schlafen. Die Pakistanische Volkspartei (PPP), welche die vorausgehende Regierung gebildet hatte und nun als die grösste Oppositionspartei im Parlament sitzt, hat sich voll hinter die Regierung gestellt.
Imran Khan verschärft seine Sprache. Er redet davon, dass die Demonstranten das Parlament stürmen könnten. Er hat die Pakistaner aufgefordert, keine Steuern und keine Gebühren mehr an den Staat zu bezahlen. Er gelobt, er werde bis zum Tod ausharren. Doch viele seiner politischen Anhänger kritisieren ihn dafür dass er Methoden anwenden wolle, die die Verfassung verletzen.
Dr. Qadri spricht ruhiger als der einstige Cricket-Star Kahn. Er verlangt Rechenschaft über die zwölf seiner Gefolgsleute, die bei einer früheren Demonstration in Lahore erschossen worden waren. Auch er fordert Neuwahlen.
Die Armee erneut Schiedsrichter
Ob es nun von der Armee so geplant war, oder ob es sich bloss so ergab: deutlich ist, dass die Armee ihre politische Position mit den Demonstrationen hat stärken können. Nawaz Sharif hatte versucht, die Offiziere von der Politik fern zu halten und ihnen die Oberhoheit über Sicherheitsfragen und Aussenpolitik allmählich zu entziehen, die viele Jahre lang als ihr eigener Zuständigkeitsbereich galten. Doch nun sind sie wieder auf den Richterstuhl zwischen gewählter Regierung und angeblichem Volkswillen zurückgekehrt.