Der Weg von der Realgeschichte über das Theater in die Oper endet meist in einer Erfolgsstory. Dieser Erfolg kann sich aber auch erst nach Jahrhunderten einstellen.
Dass die Geschichte der Maria Stuart (1542–1587) in der Historiographie Aspekte tragischer Entwicklungen im monarchischen Machtkampf um Herrschaft über Land und Leute aufweist, wird niemand bestreiten. Schliesslich wurde eine Königin von Schottland, zeitweise durch Heirat auch Königin von Frankreich, von ihrer Rivalin Elisabeth I., der Herrscherin über England, wegen Hochverrats zum Tod durch Enthauptung verurteilt. Dass eine Frau von königlichem Geblüt im 16. Jahrhundert nicht heimlich erdolcht oder vergiftet, sondern offiziell am Richtblock durch einen Henker mit einem Beil enthauptet wurde, empfand man in der Geschichte königlich-familiärer Konflikte als ein Jahrhunderte währendes «Skandalon».
Als Friedrich Schiller den Stoff, an dem er bereits früh laborierte, um 1800 als fünfaktiges Trauerspiel gestaltete, ging es nicht mehr um familiäre Verruchtheit in Feudalstaaten. Vielmehr stand die moralisch-ästhetische Frage im Zentrum, was im Rahmen von Herrschaftsbeziehungen und aufgeklärter Öffentlichkeit die der menschlichen Würde entsprechende Handlungsweise eines exemplarischen Individuums sein könnte. Schiller zeigte in der Gestalt der Maria Stuart, wie in einer durch Politik und Machtinstinkte korrumpierten Welt selbstbewusste Menschen zumindest «moralisch» zu überleben vermögen. Das im Juni 1800 am Hoftheater Weimar uraufgeführte Drama fand danach eine Resonanz und eine europaweite Rezeption, die ihresgleichen sucht.
Die Opernversion
Nach der Übersetzung von Schillers Drama ins Italienische durch Andrea Maffei (1829) war es klar, dass theateraffine Kunstliebhaber im opernbegeisterten Italien bald auf den Gedanken kommen mussten, diesen einmalig faszinierenden Stoff auch in eine tragisch-romantische Belcanto-Oper zu verwandeln. Gaetano Donizetti (1797–1848), der um 1830 auf den italienischen Opernbühnen bereits als einer der erfolgreichen Erben Rossinis galt, sah die Schiller-Version des Stoffes in Mailand und entschloss sich darauf, seine «Maria Stuarda» den Neapolitanern anzubieten.
Er hatte bereits an die 45 Opernprojekte von durchaus unterschiedlichem Gewicht und variabler Qualität realisiert, darunter Glanzstücke wie «Anna Bolena», «L’elisir d’amore» oder «Lucrezia Borgia». Am liebsten hätte er sein neues Projekt dem hochbewährten Librettisten Felice Romani anvertraut, der ihm bereits für acht Opernprojekte den Text geliefert hatte. Doch dieser hatte der Bühne inzwischen den Rücken gekehrt und beschlossen, Journalist zu werden. So wandte sich Donizetti an den jungen Studenten der Rechte Giuseppe Bardari, einen Kalabresen, der mit erstaunlichem Geschick Schillers Drama personell verschlankte und – dank Donizettis Erfahrung – zu einer dreiaktigen Tragödie über den Kampf zweier Königinnen umgestaltete. Bardari ist dennoch nicht in die Geschichte der grossen italienischen Librettisten eingegangen. Er beendete seine Karriere als Polizeipräfekt von Neapel.
Schillers Drama blieb allerdings der Leitfaden auch für die Opernversion Donizettis. Im Zentrum des Werkes steht hier wie dort die zwar unhistorische, aber das Drama enorm steigernde Szene der Begegnung zwischen den beiden Gegnerinnen: der beleidigende Hochmut Elisabeths der bittenden Annäherung Marias gegenüber, der zu einem Ausbruch der Gefühle und einer «moralischen» Abrechnung Marias mit Elisabeth, in welcher von der Bastardin bis zur lüsternen Hure der englischen Königin kein Unehrentitel erspart bleibt. Nach diesem Dialog der Königinnen ist Marias Hinrichtung aus der Sicht Elisabeths und ihrer Berater geradezu eine Sache der Staatsräson.
Der dritte Akt – musikalisch wohl der reichste – lässt uns dann einer bereuenden und zu Rachegedanken nicht mehr fähigen Maria begegnen, die Abschied nimmt von ihrer Entourage und ihrer Anhängerschaft. Sowohl Marias Beichte ihrem Vertrauten Talbot gegenüber, die Abschiedsszene, die ein regelrechter Hymnus auf das Sterben und die Jenseitshoffnung ist, sowie Marias letzte Arie, in der sie für Englands Thron und das Volk der Briten Glück und ruhmreiches Leben erfleht: all dies gehört zum aufwühlend Gelungenen und Beglückenden, das Donizetti komponiert hat. Umso unbegreiflicher ist heute das Missgeschick, dem diese geniale Kompositionsleistung Donizettis damals für mehr als hundert Jahre zum Opfer fiel.
Von Stolperstein zu Stolperstein
Das Malheur begann mit den zwei vorgesehenen Primadonnen für die Rollen der Maria und der Elisabeth, die einander schon bei den Proben in Neapel im August 1834 buchstäblich in die Haare gerieten. Weit schlimmer war jedoch, dass die Zensurbehörde die Genehmigung des Librettos verzögerte. Nach der Generalprobe intervenierte sogar der Hof in direkter Weise: König Ferdinand II. verbot Aufführungen des Werkes, sei es, weil seine Gemahlin Opern mit tragischem Ausgang verabscheute oder weil die Enthauptung einer Königin auf der Bühne doch als Ermunterung zur Rebellion gegen die Monarchie missverstanden werden konnte. Denn in Europa gärten in jenen Jahren bereits Revolution und Umsturz.
Nun musste eiligst umdisponiert werden. Mit vereinten Kräften versuchte man die Oper zu retten, indem man die Handlung in einen mittelalterlichen Streit zwischen Welfen und Ghibellinen verlegte. Es entstand ein zweiaktiges Zwittergebilde namens «Buondelmonte», eine operistische Totgeburt von Anbeginn. Donizetti war Theatermann genug, um zu begreifen, dass er seine «Maria Stuarda» auf andere Weise retten musste. Er bot sie Ende 1835 der Mailänder Scala an, musste die Rolle der Maria aber für die damals prominenteste Sängerin der Epoche, Maria Malibran, in eine Mezzo-Partie verwandeln.
Damit nicht genug: Vor der Premiere erkrankte die Malibran, wollte die Partie aber dennoch singen, um nicht ihr Honorar zu verpassen. Der Applaus für sie und das Ensemble war entsprechend endenwollend! Nach sechs weiteren Aufführungen intervenierte erneut die Zensur. Die Akte zwei und drei wurden definitiv als systemgefährdend verboten. An ihrer Stelle spielte man nach dem 1. Akt von Donizettis Maria den 2. und 3. Akt von Rossinis «Otello». Not macht erfinderisch! Zukunft hatte ein solches Pasticcio freilich keine.
In Neapel griff man erst 1865 den Stoff wieder auf, denn inzwischen waren die Bourbonen in Neapel Geschichte und Donizetti längst tot. Bis allerdings eine verbindliche Ausgabe der Ursprungsfassung entstehen konnte, brauchte es noch Jahrzehnte. Es mussten an verschiedenen europäischen Bühnen noch Abschriften, Notizen, Klavierauszüge und dergleichen gefunden werden, bis die Musikwissenschaftler eine Partitur wiederherstellen konnten, die den ursprünglichen Intentionen des Komponisten nahestehen dürfte. Erst seit den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts ist es möglich, zusammenhängend zu hören, wie grossartig jene in wenigen Sommermonaten des Jahres 1834 komponierte Musik Donizettis war, die er seiner neapolitanischen Hörerschaft schenken wollte.
Das «Beichtduett»
Als Beispiel dient uns hier die 5. Szene aus dem 3. Akt, die als «Duetto della confessione» in die Operngeschichte eingegangen ist. Für die katholische Kirche waren «Sakramente auf der Opernbühne» zwar ein zu beachtendes Tabu. Doch in Sachen Kirche waren die Zensoren etwas grosszügiger, als wo es um die Sicherheit des Staates und der Königsfamilien ging. So konnte ein «Beichtduett» gerade noch toleriert werden.
Das Gespräch findet in Marias Gemächern auf Schloss Fotheringhay statt, wo Maria ihre Gefangenschaft verbringt und wo auch ihre Enthauptung stattfinden soll. Ihr Vertrauter Talbot, englischer Graf von Shrewsbury, entpuppt sich als ein katholischer Priester, der in der Entourage der schottischen Königin lebt und somit ganz legitim eine Beichte im alten Glauben abnehmen kann.
Er berichtet Maria zunächst, dass Leicester, der mit beiden Königinnen eine Liebesbeziehung hatte, von Elisabeth den Befehl erhielt, bei der Hinrichtung ihrer Gegnerin mit anwesend zu sein. In ihrer Arie «Quando di luce rosea» bekennt Maria, als der Tag seinen rosigen Glanz über sie ausbreitete, in jungen Jahren also, da sei sie schuldig geworden am Tod ihres Gemahls Heinrich. Das süsse Lächeln der Liebe habe ihr die Tore zur Hölle geöffnet. Jetzt quäle sie seine Stimme und sein Schatten, und da sie nun an der Schwelle zum Tod stehe, mögen ihre Tränen der Schuld und des Leidens ihn besänftigen. Talbot erinnert Maria daran, dass noch ein weiteres Verbrechen ihre Seele belaste. Ein dunkler Schleier habe die Wahrheit über ihren Ehebruch bisher verschleiert Maria gesteht auch diese Missetat, bittet Gott um Vergebung. Talbot kann ihr die Absolution erteilen und Maria ein besseres himmlisches Leben versprechen, als es ihr irdisches war.
Man könnte – allein vom Libretto ausgehend – argwöhnen, diese Beichtszene sei von ihrem Inhalt und ihrem Ablauf her reichlich schematisch und konventionell. Eine Beichte ist ein religiöses Ritual, kein urkundliches Dokument des Staats! Doch da ist Donizettis Musik, die über alle Register der Mobilisierung menschenmöglicher Gefühle in Zusammenhang mit Verbrechen und Strafe, mit Schuld und Sühne, mit Stärken und Schwächen einer geachteten Einzelperson verfügt. Eine Musik, die das unentwirrbare Geheimnis der inneren Vorgänge eines liebenden und leidenden Individuums so hörbar macht, wie dies nur in den offensten Augenblicken des Lebens möglich ist.
Die «Maria Stuarda» des 20. Jahrhunderts
1989 entstand in München eine Einspielung der Oper mit den drei Haupt-Protagonisten der vorausgegangenen Wiener Produktion von Donizettis «Maria Stuarda» aus dem Jahr 1985. Edita Gruberova sang die Maria, Agnes Baltsa die Elisabetta und der Tenor Francisco Araiza den Grafen Leicester. Unter der Leitung von Giuseppe Patanè hört man den Chor des Bayerischen Rundfunks und es spielt das Münchner Rundfunkorchester. Aus heutiger Sicht ist dies ein so herausragendes Tondokument, das man es musikalisch als die definitive Rehabilitation dieses lange verkannten Meisterwerks von Donizetti ansehen kann.
Im 20. Jahrhundert gab es einige grosse Interpretinnen von Donizettis Maria Stuarda. Zu ihnen gehören Primadonnen wie Joan Sutherland oder Montserrat Caballé, beide auch auf Tonträger dokumentiert. Die «Stuarda assoluta» scheint mir jedoch Edita Gruberova gewesen zu sein, die wie keine andere mit ihrer Stimme einerseits die Würde und Entschiedenheit, ja die Wut und die Verwegenheit dieser Königin zu verkörpern vermochte, andererseits jedoch die zarte Verletzbarkeit und die «Seelenschönheit» einer liebenden Frau in unvergleichlich leisen und innigen Belcanto-Tonbewegungen gestalten konnte.
Edita Gruberova, dieses Stimmwunder der Präzision, der Koloraturkunst und der Verzauberung des Publikums durch Leuchtkraft und Leichtigkeit ist am 18. Oktober 2021 in Zürich gestorben. An «ihrer» Maria Stuarda werden sich alle Nachfolgerinnen im 21. Jahrhundert messen lassen müssen.