Mussorgsky (1839–1881) ist einerseits ein weltweit anerkanntes Urgestein der russischen Musik. Er ist andererseits aber auch ein Stein des Anstosses für das Musiktheater, und er ist dies bis zum heutigen Tag geblieben. Sein «Boris Godunow» gehört zwar zu den nachhaltigsten Erfahrungen, die auf den Opernbühnen der Welt zu machen möglich sind. Seine zweite Oper «Chowanschtschina» führt hingegen bis zum heutigen Tag eine Art Schattendasein. Aus aufführungstechnisch einsehbaren, musikalisch dennoch schwer zu erklärenden Gründen.
Geburtsnöte
Neun Jahre lang werkelte der Komponist an dieser Oper herum. Ein Freund – Wladimir Stassow, der Inspirator der Petersburger Komponistengruppe «Das mächtige Häuflein» – hatte ihm den Stoff nahegebracht, doch das Libretto verfasste Mussorgsky schliesslich selbst. Als der trinkfreudige, zu Exzessen neigende und von Depressionen heimgesuchte Komponist 1882 starb, gab es zwar viele Skizzen und Entwürfe, doch nicht einmal ein Klavierauszug war fertig, geschweige denn die Instrumentation. Im letzten Lebensjahr haben ihn seine Freunde mit hundert Rubeln im Monat unterstützt, damit er sein Werk ausführe und zu Ende bringe.
Es war Rimski-Korsakow, der 1886 seine Fassung dieser zweiten Mussorgski-Oper zur Uraufführung brachte, ein von ihm zusammengestutztes und «verbessertes» Werk, das den Intentionen Mussorgskis arg widersprach, weil es die radikale Melodik und Harmonik des Werkes glättete, rundete und durch romantische Konventionen einer westwärts orientierten Kultur verfälschte. 1913 legte Diaghilew in Paris eine Variante vor, für welche Igor Strawinski den Schluss aufgrund des Skizzenmaterials neu einrichtete. Zwischen 1940 und 1959 sass Dmitri Schostakowitsch immer wieder an seiner die Angaben Mussorgskis genauer befolgenden Fassung, welche endlich die neue Ästhetik des Komponisten – zumal in der Orchestration der «Chowanschtschina» – zu respektieren suchte. Diese wurde 1960 im Kirow-Theater in St. Petersburg uraufgeführt und ist seitdem zu der in den Opernhäusern der Welt am meisten verwendeten Fassung geworden.
Die Ausgabe der Werke Mussorgskis durch den Musikwissenschaftler Pavel Lamm hat es dann mit sich gebracht, dass wir heute beim Hören der «Chowanschtschina» den Intentionen ihres Schöpfers so nahe wie möglich kommen könnten. Es ist diese Variante, die auch Claudio Abbado wählte, als er in einer stilistisch massgebenden Produktion 1989 an der Wiener Staatsoper das Werk neu ins Bewusstsein der Opernwelt brachte. Auch sie übernimmt die von Strawinski eingerichtete Fassung der Schlussszene. Diese Produktion ist heute als CD und als DVD erhältlich, ergänzt um eine wertvolle Dokumentation zur Entstehung und zur Wirkungsgeschichte dieses unvollendeten, sperrigen und kaum auslotbaren Meisterwerkes.
Ein epochales Zeitbild
Was Mussorgski vorschwebte, war ein «musikalisches Volksdrama». «Chowanschtschina» – angemessen übersetzt – könnte lauten: «Schweinische Verhältnisse zur Zeit der Chowanskis». Wir sind in der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts, in der Zeit kurz vor dem Machtantritt von Peter dem Grossen (Russlands Zar von 1682 bis 1725). Die Zaren selbst treten in der Oper nicht auf. Diese beginnt mit einer Denunziation: Ein Schreiber muss auf Druck des Bojaren Schakloviti dem Zarenhaus mitteilen, Fürst Chowanski, Führer der Palastgarde, sein Sohn Andrei und die Strelitzen – die Elitewachen und Verteidiger des Kremls – würden einen Aufstand gegen die in St. Petersburg weilende Zarenfamilie und deren Garden planen.
Chowanski ist ein Prätendent auf die Zarenkrone. Auch Fürst Golizyn ist ein solcher. Die beiden sind neben Schakloviti im Ringen um die politische Macht der Zukunft eifersüchtige Konkurrenten. Charakterschweine sind sie alle drei. Die Truppen der Strelitzen und «das Volk» sind ihre Manipulationsmasse. Daneben gibt es aber noch eine ganz andere Macht: die Kirche. Auch diese ist gespalten. Denn die Zarenfamilie und Patriarch Nikon haben Reformen eingeführt, die im Volk zu einer Spaltung führten. Auf der einen Seite: die – mit dem Segen der Zarenfamilie – für Reformen und für Annäherung an die Griechisch-Orthodoxen plädierende Kirchenmacht; auf der anderen die «Spalter», die Raskolniki, auch «Altgläubige» genannt, deren Führer Dosifei zwar eine gewiss eindrückliche spirituelle Führerfigur ist, doch andererseits vollkommen von Fanatismus und kollektivem Opferwahn geprägt ist.
Eigentlich sind es diese unterschiedlichen gegeneinander sich aufhetzenden Volksmassen und die jeweiligen Anführer, deren kriminelle Machenschaften, Habgier, Wankelmut und Ehrgeiz Mussorgski in den Mittelpunkt seiner Oper stellt. Darum spielen auch die Massenszenen mit ihren aufgehetzten, orientierungslosen Volksgruppen in diesem Werk die Hauptrollen. Die Einzelfiguren sind allesamt Ausprägungen individuellen Grössenwahns und werden allesamt zu Opfern ihres Ehrgeizes und ihrer fehlenden Einsicht, was zum Wohle des Volkes sein könnte. Die Leidenden sind immer: «das russische Volk».
Wie Mussorgski aus dem Fundus russischer Volks- und Kirchenmusik schöpft, um die Tragik dieser gesellschaftlichen Antagonismen im motivischen Neben- und Ineinander hörbar zu machen, gehört zu seinen kompositorischen Glanzleistungen. Die Machtkämpfe von Einzelnen und deren Politclans sind sicherlich die eine Klangwirklichkeit, die wir hier erleben. Das hilflose Leiden und Aufbegehren der Getriebenen, Verführten und Getäuschten als einer den bösen Mächten ausgelieferte Volksmasse ist die andere Erfahrung, für welche dieser Komponist nie zuvor gehörte Töne – darunter Jubel- und Klagegesänge – fand und erfand.
Eine aussergewöhnliche Frau namens Marfa
Marfa ist die weibliche Hauptfigur der Oper. Auch sie eine Zerrissene wie das Volk. Ihr ehemaliger Geliebter Andrei Chowanski hat sie zugunsten einer deutschen Lutheranerin namens Emma verlassen. Inzwischen schwankt Marfa zwischen der Anhängerschaft an die religiösen Fanatiker der Altgläubigen und einem ihr gebliebenen Hang zum Adel, für den sie gerne auch Wahrsagerdienste leistet.
In der ausgewählten Arie aus dem 2. Akt begegnen wir ihr im Arbeitszimmer des Fürsten Golizyn. Dieser verlangt von ihr, ihm seine Zukunft zu offenbaren. Sie weiss ihm zu berichten, er werde entmachtet und in die Verbannung geschickt! Daraufhin entlässt er sie und befiehlt, Marfa in einem Sumpf zu ertränken. Das wird zwar nicht geschehen, aber Marfa wird sich mit dem jungen Chowanski und mit ihrem Anführer und Beschützer Dosifei am Ende der Oper in der Schar der Altgläubigen finden, die den kollektiven Verbrennungstod herbeisehnt und erreicht.
In unserer Szene offenbart ihr Fürst Golizyn seine Lebensangst. Man lebe in einer Zeit der Heimlichkeiten, des Verrats und der Gewinnsucht. Man zittere um jeden Augenblick dieses nutzlosen Lebens. Marfa bestellt Wasser, um im Wasserspiegel das Geheimnis des noch verborgenen Lebens zu erschliessen. Sie bedeckt sich mit einem schwarzen Tuch und beginnt zu weissagen.
Die Zukunft auf dem Wasserspiegel
«Geheime Mächte, ihr habt meinen Ruf gehört. Fürst, deines Schicksals Geheimnis wird enthüllt!» Böse Menschen würden ihn umgeben mit heimtückischem Lächeln. Diese hätten sich gegen ihn zusammengeschlossen. Sie würden ihn in die Weite weisen. Er verliere Macht, Reichtum und Ansehen. Die Musik dieser Arie scheint uns anzudeuten, dass sie aus einem Reich der unendlichen Unheimlichkeit, jedoch ebenso aus einer übermenschlichen Unausweichlichkeit und Entschiedenheit kommen würde. Diesen Kräften haben auch die Mächtigen dieser Welt nichts zu ihrer Rettung entgegenzusetzen.
Manchmal, wenn wir ältere Aufnahmen dieses Werkes hören, überfällt uns die Ahnung, dass das, was wir in unserer Zeit musikalisch zustande bringen und zu hören bekommen, das historisch Geleistete nicht in jeder Hinsicht zu ersetzen vermag. Etwa die unvergleichlich rollengerechten Verkörperungen von Figuren, die uns stimmlich überwältigen, trotz der heute weit günstigeren Bedingungen durch Aufnahme- und Tontechnik. Wie beispielsweise diese hier ausgesuchte Arie der Marfa, die man sich für diese leidende, unberechenbare, aber so phantastisch trotzig und selbstbestimmte Frau nicht bewegender vorstellen kann.
Wir erleben in der Aufnahme Tamara Sinyavskaya, eine russische Mezzosopranistin, 1943 geboren, von der wir hierzulande bislang wenig hörten, die uns aber mit ihrer Stimme sogleich in Beunruhigung zu versetzen vermag. Ist dies nicht eine Stimme, welche auch bei uns im Westen tiefe Empfindungen über die jahrhundertelang scheinende politische und kulturelle Leidensgeschichte des russischen Volkes zu erwecken vermag?
https://www.youtube.com/watch?v=Emy6j8_99QY
Wer die neu orchestrierte Wiener Fassung hören will, hat auch eine Chance. Es gibt sie auf youtube zu finden als Gesamteinspielung hier:
https://www.youtube.com/watch?v=tYcOoLJnBP4
Man braucht dafür allerdings knappe 3 Stunden. Freilich solche, die man als Liebhaber der Opernmusik lebenslang nie bereuen wird