Wie Ende März dieses Jahres bekannt wurde, soll Julia Kristeva – 1967 nach Frankreich gekommen – zwischen 1971 und 1973 als IM (Inoffizielle Mitarbeiterin) des bulgarischen Geheimdiensts tätig gewesen sein. Als glühende Maoistin scheint sie für die Dienste jedoch bald untauglich geworden zu sein. Die französisch-bulgarische Autorin selber bestreitet vehement jede Verbindung zum Geheimdienst. Aufschlussreich für das Klima dieser Jahre sind die Umstände einer Reise nach China 1974, an der auch ein bald einmal ziemlich frustrierter Roland Barthes teilnahm, prominenter Mentor Kristevas.
Anlass genug, um im Büchergestell wieder einmal in der Abteilung Jugendsünden vorbeizuschauen. Da ist sie auch schon: die Nummer 47 von „Tel quel“, erschienen „Automne 1971“ und zur Gänze Roland Barthes gewidmet. Diesmal wollen wir uns am Anhang delektieren, der in seltener Ergiebigkeit auf nur gerade einem Dutzend Seiten die ideologische Verblendung einiger Wortführer der Pariser „Intelligentsia“ von 1968 illustriert.
Godard hatte mit „La Chinoise“ zwar bereits im Sommer 1967 den Refrain vorgegeben, der für sämtliche Lebenslagen „Mao! Mao!“ lautete, aber Philippe Sollers, seine fünf Jahre jüngere Ehefrau Julia Kristeva sowie Redaktionssekretär Marcelin Pleynet brauchten noch etwas Zeit, um „Tel quel“ von all den „revisionistischen“ Elementen zu säubern, die von ihren dem PCF, der Kommunistischen Partei Frankreichs, verpflichteten Positionen nicht abrücken mochten. Wie Pleynet später dazu sagen sollte, fand sich die Redaktion damals „eingekreist von der Ideologie reformistischer Stalinisten, die irgendwie aufgesprengt werden musste. Und da hat sich China als naheliegendste Lösung empfohlen“. Jedenfalls waren die Redaktionsräume nun vollgepflastert mit dazibao, Wandzeitungen, und war die Bahn frei für den endlich installierten Maoismus und damit das „Mouvement de juin 71“.
Sprachschutt und Wörtermüll
Der Anhang von „Tel quel“ Nr. 47 wird eröffnet durch eine sogenannte „Deklaration“ des „Mouvement“ zur „Ideologischen Hegemonie von Bourgeoisie/Revisionismus“ und endet mit dem Schlachtruf: „Nieder mit der korrupten Bourgeoisie! Nieder mit dem verfaulten Revisionismus! Nieder mit dem Binarismus der Supermächte! Es lebe das revolutionäre China! Es lebe die Gedankenwelt Mao Tse-tungs!“ Es folgen die „Positionen“. Aus dem Sprachschutt und Wörtermüll lassen sich Sätze extrahieren wie: „Genossen! Das Jahr ist nicht 1920 und nicht 1930, nicht einmal 1960, sondern 1971. Eure Avantgarde ist nicht der Formalismus, der Futurismus, der Surrealismus, der ‚nouveau nouveau roman‘ usw., sondern die Schneise einer revolutionären Produktion heute. Heute, das heisst eine Epoche, die die proletarische Kulturrevolution in China gesehen hat, Mai 68 in Frankreich sowie, auf der internationalen Szene, das Wiederaufwallen, die unumkehrbare Ausbreitung der revolutionären Theorie und Praxis unserer Zeit: die Gedankenwelt Maos.“ Fast noch erbitterter als die „Bourgeoisie“ wird der „Revisionismus“ verdammt, bis zum abschliessenden: „Nieder mit dem Dogmatismus, dem Empirismus, dem Opportunismus, dem Revisionismus! Es lebe die wahre Avantgarde!“ Nicht zu vergessen: „Vive la pensée-maotsétoung!“
1974 sollte die Ernte für jahrelange blinde Propaganda eingefahren werden, indem nämlich Sollers für seine Dreierbande eine Einladung ins Gelobte Land erwirkt hatte samt, als Begleiter, Roland Barthes und François Wahl, Barthes‘ Verleger. Qingya Meng beschreibt in einer ausserordentlich gründlichen Dissertation von 2017, „Le voyage en Chine de Tel Quel et de Roland Barthes (1974). Enjeux, embûches, enseignements“, die sich nicht zuletzt durch Kenntnis des Chinesischen auszeichnet, Vorgeschichte, Verlauf und Nachwirkungen dieses Unternehmens. Anders als in den fünfziger Jahren, als die damaligen Mandarine von Paris, Sartre und Beauvoir, der Ethnologe Michel Leiris, der Sinologe Étiemble ebenso wie der Philosoph Paul Ricœur und der Filmemacher Chris Marker, Einladungen gefolgt waren, um von den Errungenschaften des Grossen Steuermanns zu berichten, waren nun Heilserwartungen an die Reise geknüpft.
Allerdings scheint ihre Pilgerfahrt für die drei „telqueliens“ zur ziemlichen Antiklimax geworden zu sein. 1977 dann fand Sollers zu seiner „Autocritique“, in der nun zu lesen war, er sei „nie weder Marxist noch Leninist noch Maoist gewesen. Es gab eine Zeit, da das Mode war. Ich bin bloss dieser Mode gefolgt.“ Von Kristeva sind keine derart erbärmlichen Äusserungen bekannt, sie scheint sich stillschweigend vom Maoismus ab- und nun eben der Psychoanalyse und dem Schreiben von Romanen zugewandt zu haben. Die eminente Kennerin der französischen Moderne Gerda Zeltner schrieb in ihrer Rezension von „Les Samouraïs“ (1990) in der NZZ: „Befremden mag schon, dass diese mit allen poetologischen Möglichkeiten vertraute Sprachkennerin im Stil der reinsten Konsumliteratur, des rationalen bürgerlichen Erzählens daherkommt.“
Barthes nippt an fadem Grüntee
Ganz anders verhielt es sich mit Roland Barthes, der nie ideologisch war und auch nicht von politischen Interessen geleitet. Er war der erste, der sich nach der Rückkehr zu Wort meldete; sein Reisebericht „Alors, la Chine“, ausgeschnitten aus „Le Monde“ vom 24. Mai 1974, liegt dezent vergilbt vor mir und trägt Züge einer Pflichtübung. Unschwer lässt sich ihm entnehmen, dass das Ganze eine fade Angelegenheit gewesen sein muss, die öden Landschaften, die sie zu Gesicht bekamen, ebenso wie der unablässig gereichte fade Grüntee. So ernennt er das Fade halt zum Delikaten, dann, noch beschwichtigender, zum Friedlichen.
Doch „les signifiants sont rares“. Zwar lässt Barthes drei herausragende Signifikanten gelten: die Schrift, die Küche, die Kinder, deren Gesichter zu betrachten man gar nicht genug bekommen könne. (Anders als der Schreibende, der zehn Jahre später in Nordostchina sein unheimlichstes „Kindererlebnis“ je hatte, als das erst fröhlich scheinende, dann immer frenetischere Geschrei einer Horde Kindergärtler so bedrohlich wurde, dass nur noch die Flucht blieb. Wie die Dolmetscherin sagte, hatten die Kinder „Langnase! Langnase!“ geschrien. Seither glaube ich, eine vage Ahnung davon zu haben, wie es zu Zeiten der Kulturrevolution gewesen sein könnte.) Fast verschwunden, konstatiert Barthes, sei hingegen der Körper hinter der uniformen Kleidung der Geschlechter, beim Fehlen von Mode und Make-up. Nicht mehr zu begreifen sei er, wenn er sich darauf versteife, nicht mehr zu bedeuten („à ne pas signifier“), sich nicht mehr „zur erotischen Lektüre hernehmen“ zu lassen.
Was Barthes mit „lecture érotique“ auch meinte, enthüllen seine erst 2009 postum erschienenen „Carnets de voyage en Chine“, von denen unklar ist, in welcher Form er sie zur Publikation gebracht hätte. Geplagt von fürchterlichen Migränen, ächzend, als der mit Abstand Älteste der Gruppe, unter dem dichten Besichtigungsprogramm und der Hitze, dazu unter der rigiden Überwachung durch die Dolmetscher, die sie offenbar wie privilegierte Häftlinge zu behandeln hatten, scheint sich im Verlauf der drei Wochen beim knapp Sechzigjährigen geradezu ein sexueller Notstand eingestellt zu haben. Nicht einmal den „‘kiki‘ von einem einzigen Chinesen“ habe er zu sehen bekommen, klagt er da und schwelgt in der Vorstellung all der „schlenkernden Schwänze hinter den schlotternden Gewändern der Arbeiter“. Da war offensichtlich nicht nur ein Semiologe bei seiner Chinafahrt gar nicht auf seine Kosten gekommen.
(Eine Kurzfassung dieses Artikels ist am 21. Juni in der NZZ erschienen.)