Parallelen bestehen. So wie das deutsche Kaiserreich am Anfang des 20. Jahrhunderts weiter nach vorne und oben drängte, so spielt heute China die Rolle des globalen Emporkömmlings, der zumindest nach regionaler Dominanz strebt. Indes dominieren die USA im Moment noch unbestritten den asiatisch-pazifischen Grossraum (Asia Pacific), so wie das für England und Europa vor 100 Jahren galt. Japan ist heute das Frankreich von damals, mit unbereinigter Vergangenheit und aktuellen Zankäpfeln im bilateralen Verhältnis mit China, aber solidem Rückhalt basierend auf vertraglich verankerten Nahbeziehungen zum Hegemon USA.
Damit wird die grundlegende Bedrohungslage in Asien in groben Zügen umrissen. Sie hat sich in den letzten Monaten und speziell in den letzten Tagen wieder einmal etwas stärker konkretisiert. Auf japanischer und chinesischer Seite sind seit einiger Zeit konservativ-nationalistische Regierungen - und speziell Regierungschefs - am Ruder, welche einen unbedeutenden Soveränitätszwist rund um unbewohnte Klippen im ostchinesischen Meer zur nationalen Schicksalsfrage heraufstilisieren. Mit einer überfallartig dekretierten Luftüberwachungszone, welche auch diese Klippen einschliesst hat nun Beijing tüchtig ins glimmende Feuer geblasen.
Obama handelt am vernünftigsten
Japan hat darauf erwartungsgemäss am schärfsten reagiert, indem die Regierung die Zone weder militärisch noch für die Zivilluftfahrt anerkennen will. Aber auch anderswo im Asia Pacific fielen die Reaktionen sehr negativ aus, haben doch fast alle der ASEAN-Staaten mit Beijing ein ähnliches Problem wie Japan; für Südostasien geht es dabei um Grenzen im südchinesischen Meer, welche China immer offensiver nahe an die Küste seiner ASEAN-Nachbarn zieht und damit uralte Ängste vor einer Dominanz durch das Reich der Mitte schürt.
Einmal mehr hat die Obama-Administration im internationalen Vergleich am vernünftigsten gehandelt, indem Beijing klar signalisiert wurde, dass sicherheitspolitisch keinerlei Konzessionen gemacht würden, dass aber der Zwist keine potentiell gefährliche Ausweitung auf die Zivilluftfahrt (man erinnert sich an den Abschuss einer koreanischen Passagiermaschiene durch die UdSSR in den 80er Jahren) haben soll. Vizepräsident Biden erliess während seines China-Besuchs einen klaren Appell und erklärte, die Menschenrechte würden weiterhin ein Hauptthema bleiben.
Cameron liess die Hosen runter
Gar nicht reagiert hat leider die EU, mit immerhin zwei ständigen Mitgliedern im UNO-Sicherheitsrat. Im Gegenteil, der britische Premierminister hat genau zu diesem Zeitpunkt in geradezu peinlicher Art und Weise in Beijing seine Kommerzhosen heruntergelassen. Damit hat er einmal mehr - andere europäische Länder sind keineswegs besser - den chinesischen Eindruck bestätigt, dass Europa zwar bellt, aber angesichts der Grösse des chinesischen Marktes im entscheidenden Moment mit dem Schwanz wedelt.
Nun ist Präsident Xi Jingping kein leicht vertrottelter Greis, wie das Wilhelm II. am Vorabend des 1. Weltkrieges war. Er ist aber ebenso wie Wilhelm lediglich formal auch höchster militärischer Chef mit Generälen, welche systembedingt den Luddendorfs und Hindenburgs wohl eher ähneln als etwa militärischen Staatsmännern wie Marshall und Eisenhower. Wie im berühmtesten der zahllosen Bücher über den Ausbruch des grossen Krieges in Europa die amerikanische Historikerin Barbara Tuchmann (‘The Guns of August’) überzeugend darlegt, begann der Flächenbrand in Europa - welcher sich mit zwei offenen Kriegen und zwei lähmenden Krisen bis 1990 hinzog und das Ende der europäischen Hauptrolle auf der Weltbühne besiegelte - mit einer Reihe von Dummheiten, historischen Nebensächlichkeiten und rein militärisch ausgerichtetem Strategiedenken.
Wilhelm II. zeigt uns auch noch heute, dass ein letztlich verheerender Konflikt in der Folge fataler Missverständnisse und ohne offensichtlichen Grund entstehen kann. Einmal losgetreten, vernichtet die Kriegswalze alles und auf lange Dauer, sowohl Länder wie Einzelne, Besiegte und oft auch Sieger.
Schwarze Todesboten
Das kam mir in den Sinn beim kürzlichen Gang durch die monumentale Ausstellung des Lebenswerks von Georges Braque (1882 – 1963), welche momentan im Grand Palais in Paris gezeigt wird. Der junge Braque, ein Bewunderer von Cézanne malte in den fröhlichen, heute würde man sagen ‘aufgestellten’ Farben der Fauvisten in einer der wichtigsten Nachfolgelinien der Impressionisten. Später tat er sich mit dem jungen Picasso zusammen, um das kühne Experiment des Kubismus zu lancieren.
Wie Millionen andere junge Europäer welche mit Zuversicht und Zukunftsglauben ins neue Jahrhundert eingetreten waren, wurde Braque aber durch den Kanonendonner im August 2014 jäh gestoppt und aus der bisherigen Lebensbahn geworfen. Im ersten Krieg schwer verwundet und daher ausgemustert, im zweiten Weltkrieg im inneren Exil, fertigte er bis ins hohe Alter Meisterwerke, welchen aber ein melancholischer, bisweiligen trauriger Grundzug eigen ist. Typisch etwa sein Spätwerk mit abstrakter Darstellung von Vögeln; ‘Les Oiseaux’ (1954 -62) werden von schwarzen Todesboten dominiert.
Die EU – ein Friedenswerk so aktuell wie nie
Von Braque zurück nach Asia Pacific zu Beginn des 21. Jahrhunderts und der These, dass dort die gefährlichste Bedrohung des Weltfriedens liegt. Und nicht im Nahen Osten, schon gar nicht im wohl wirtschaftlich geschüttelten aber im Ganzen endlich heilen Europa.
Was aber keineswegs bedeutet, dass wir uns hier in Europa auf unser aktuelle, primär merkantilistische Asienpolitik beschränken können und dürfen. Man kann und soll aus Geschichte lernen und Erfahrungen auch weitergeben. So gesehen ist die EU als Friedenswerk so aktuell wie nie. Sie mag nicht das im Moment geeigneste Muster für Asien abgeben, wo die meist jungen Nationalstaaten für entsprechenden Souveränitätsübertrag noch nicht bereit sind. Der eminente australische Strategieexperte Hugh White sieht eine mögliche Vorbildfunktion für Asia Pacific im europäischen ‘Concert of Powers’ des 19. Jahrhunderts nach dem Frieden von Versailles. Andere, so dieser Chronist, glauben, dass der ‘Helsinki’-Prozess, welcher viel zur Überwindung des Kalten Krieges beigetragen hat, zwar kein Modell, aber ein nützliches Fallbeispiel für eine noch zu schaffende Sicherheitsstruktur im Asia Pacific sein könnte.
Hinter dem Rapsfeld: blaue Berge
Ach, und übrigens: Jene Schweizer welche glauben, die Alpenrepublik könne sich wie in Europa, so auch weltweit mit geschickter Aussenwirtschaftspolitik, verbrämt mit etwas guten Diensten und moderater humanitärer Hilfe, zufrieden geben, irren sich gründlich. Ein zwar nicht wahrscheinlicher, aber auch nicht auszuschliessender Weltbrand von Asien her wird sich wenig um Neutralität und andere helvetische Nettigkeiten kümmern.
Die KSZE/OSZE, das Gerüst hinter ‘Helsinki’, ist seit Anbeginn auch eine schweizerische Konstruktion. Ein seltenes aber substantielles Beispiel, dass schweizerische Aussenpolitik nicht nur Stillesitzen bedeuten muss. Das Jahr 2014 steht auch für die schweizerische Präsidentschaft der OSZE; man hofft auf einen positiven Impuls - hier und generell für schweizerische Aussenpolitik.
Zum Schluss also eine Dosis Optimismus zur Aufhellung einer eher düster gezeichneten Zukunft. So hat es allenfalls auch Braque empfunden als er seine letzte Landschaft malte. ‘Le Champ de Colza’ (1956- 57) zeigt hinter einem leuchtend gelben Rapsfeld lockende blaue Berge unter einem kräftigen Sommerhimmel.