Nur wer an einem System zweifelt, kann es stärken. Alle Bemühungen, schweizerische Institutionen, Übereinkommen und Verträge im Gleichschritt mit der Zeit zu aktualisieren, sind deshalb zu begrüssen. Zwar bleibt noch relativ viel Zeit bis zur Abstimmung über die geplante Rentenreform, doch die Positionsbezüge mehren sich. Dass Links und Rechts «grundsätzliche Vorbehalte» zu Alain Bersets Ideen äussern, gehört zum Spiel und beweist, dass es diesmal über kosmetische Retuschen hinausgehen soll. In seiner Rede an der Universität Zürich (Schweizerisches Institut für Auslandforschung) meinte der Bundesrat im Februar 2014: «Hier kann unser Land beweisen, wie stark es ist, wenn für einmal alle am gleichen Strick ziehen. Ich meine natürlich das gleiche Ende des Stricks.»
Ziele der Reform
Im Fokus steht der Erhalt des Leistungsniveaus. Die gleichzeitige und transparente Reform stellt somit die Interessen der Versicherten ins Zentrum. Der allgemeinen Verunsicherung gegenüber unserem Vorsorgesystem wird mit einer Politik der Vertrauensbildung begegnet. Zusätzliche Einnahmen müssen die Liquidität der AHV garantieren. Zur Bewältigung der demographischen Herausforderung soll deshalb mindestens ein zusätzliches Mehrwertsteuer-Prozent erhoben werden. Das Referenzalter für die Pensionierung wird flexibilisiert und die Absicherung von wenig verdienenden Personen gestärkt. Weitere Teilaspekte können dem geänderten Umfeld angepasst werden.
Das Gesamtpaket wurde geschnürt angesichts der deprimierenden Erfahrungen vergangener Teilrevisionen, die allesamt in den letzten fünfzehn Jahren an der Urne versenkt worden waren.
Reformstillstand vermeiden
Spätestens ab 2020 wird als Folge der Alterung der Gesellschaft in der AHV mit einem jährlichen Defizit von acht bis zehn Milliarden Franken zu rechnen sein. Sollten zukünftig Männer und Frauen länger im Arbeitsprozess verbleiben als heute, müssten die Anreize entsprechend gesetzt werden, argumentiert Berset. Zukünftig soll deshalb Rentenalter 65 für Mann und Frau gelten.
Eine Erhöhung darüber hinaus wird zwar da und dort gefordert; die Erfahrungen – auch gut qualifizierter – Arbeitsloser über 55 sprechen allerdings dagegen. Als graue Theorie bezeichnet die Sprecherin des Bundesamts für Sozialversicherungen (BSV) diese Forderung, die auch von Professor George Sheldon (Universität Basel) vorgetragen wird. Wer im Juli 2014 den Hilferuf eines 57-jährigen Arbeitslosen mit zwei Mastertiteln und grosser Erfahrung in der NZZ am Sonntag gelesen hat, stellt wieder einmal fest, dass Praxis und (professorale) Theorie oft nicht kongruent sind.
Der Gesamtbundesrat strebt an, den Reform-Stillstand zu beenden, weil sich die Schweiz den schlicht nicht mehr leisten kann. Dieses Ziel zu erreichen wird ein steiniger Weg, und deshalb scheint das Gesamtpaket aus seiner Sicht noch da und dort durchaus änderungsfähig.
Mitte-Links oder Mitte-Rechts?
Bereits blasen also Wirtschaft und Gewerkschaften zum Widerstand. Es ist zudem wenig hilfreich, wenn in den Printmedien die Aussichten dieser umfassenden Reform als wenig rosig beschrieben werden. Gewerbeverband und Arbeitgeberverband fordern schlicht eine Neukonzeption. Und wie gewohnt spricht der Gewerkschaftsbund von «Rentenklau» in der zweiten Säule und ist gegen die Erhöhung des Rentenalters für Frauen.
Das Parlament dürfte wohl 2015 die Diskussionen aufnehmen. Ein Generationen umfassendes Sanierungskonzept, das ein Denken über den Horizont hinaus erfordert, darf nicht an veralteten, verstaubten Links-Rechts-Schablonen scheitern. Der Sprung über den eigenen Schatten könnte auch davon zeugen, dass zumindest einzelne Strategen das kapiert haben. Das Volk hat sich in letzter Zeit von Parteiparolen emanzipiert.
Alles auf einen Streich
Im anvisierten Gesamtpaket sollen also AHV und zweite Säule in einem Aufwisch reformiert werden. Denn mit der Pensionierung der Babyboomer-Generation ab 2020 droht dem bewährten Mehr-Generationen-Projekt der finanzielle Absturz, auch bei positiver Konjunkturentwicklung. Dies kann im Ernst niemand herbeiwünschen. Und deshalb geht diese Reform alle an. Wer also bereits im Vorfeld kritisiert, die Umstellung verlange zu viele Opfer (natürlich nur von der eigenen Klientel) oder theoretisiert, wir bräuchten nur zwei Jahre länger zu arbeiten (bis 67), macht es sich zu einfach.
Als Hauptstolpersteine dürften sich einerseits die geplante Erhöhung der Mehrwertsteuer um ein Prozent (später bei Bedarf um ein weiteres halbes Prozent) und andererseits bei der Zweiten Säule die Senkung des Umwandlungssatzes für Pensionskassen von 6,8 auf 6,0 Prozent entpuppen.
Eigenartige Partei- und Verbandspolitik
Wie meistens, wenn ein Vorschlag nicht aus der Küche der SVP kommt, ist er ihrer Meinung nach zum Scheitern verurteilt. Die SP fordert – auch das völlig quer in der Landschaft – primär mal höhere Renten. CVP und FDP haben einen ganzen Wunschkatalog an Streichungs- und Ergänzungsthemen. Die BDP findet das Festhalten am Rentenalter 65 falsch. Der Gewerkschaftsbund ist strikte gegen die Herabsetzung des Umwandlungssatzes, während der Arbeitgeberverband die Finanzierung über die Mehrwertsteuer kritisiert. Der Gewerbeverband schliesslich meint, diese Reform würde das Wirtschaftswachstum drosseln.
Der Renten-Poker hat also früh begonnen. Vielfach wird jetzt argumentiert, bisher hätten sich alle düsteren Prognosen der leeren AHV-Kassen nicht bewahrheitet. Das stimmt zwar – mit der Betonung auf bisher. Denn der Grund liegt in der enormen Zuwanderung, und mit dieser ist, seit der Annahme der Masseneinwanderungs-Initiative am 9. Februar 2014, nicht mehr in gleicher Weise zu rechnen.
Demographische Herausforderung für die AHV
Die Altersstruktur der schweizerischen Bevölkerung verändert sich augenfällig. Jedes Jahr steigt die Anzahl der über 65-Jährigen, die zudem immer älter werden. Die Sonnenseite dieser Alterspyramide: erfreuliche Aussichten für die AHV-Bezüger. Die Schattenseite: Die AHV-Renten verschlingen immer mehr Geld.
Die jungen Generationen werden dereinst erheblich stärker belastet sein, als die heutigen Rentner es sind. Dies ist das Ergebnis einer Studie des Forschungszentrums Generationenverträge (FZG). Es erstaunt wenig – wir erleben das täglich hautnah. Doch dass die Autoren der Studie orakeln, dass deswegen an einer Erhöhung des Rentenalters kein Weg vorbeiführe, gilt eben momentan als graue Theorie. Der Arbeitsmarkt, die Arbeitgeber, die Erfahrungen Stellenloser der 55-plus-Generation: sie alle signalisieren genau das Gegenteil. Da müsste sich in den Köpfen der verantwortlichen Arbeitgeber in den nächsten zehn Jahren einiges drastisch ändern.
Scherbenhaufen vermeiden
Ende Juni 2014 hat der Bundesrat Richtungsentscheide verabschiedet, ohne an seinen bisherigen Vorstellungen viel zu ändern. Die Kritiker der Vorlage ärgern sich schon mal öffentlich. Allerdings sind aus diesen Kreisen bisher auch keine neuen Ideen vorgetragen worden, die – angesichts der Erfahrungen der letzten Abstimmungen – mehrheitsfähig wären. Wenn alle Beteiligten auch in Zukunft weiterfahren mit ihrer kurzsichtigen, egoistischen Kritik und Ablehnung, werden wir auch Jahre nach dem ersten Reformversuch erneut vor einem Scherbenhaufen stehen. Wollen wir das?
Das vorgesehene Gesamtpaket ist die Konsequenz aus bisherigen Abstimmungsdebakeln: Sämtliche Teilrevisionen wurden vom Stimmvolk abgelehnt. Wenn jetzt argumentiert wird, die Vorlage sei überladen, zeugt das von kurzem Gedächtnis. Der Bundesrat beweist Mut. Das gefällt nicht allen. Ehrlicherweise gilt es zu anerkennen: Man kann nicht allen gefallen!