Zum zweiten Mal in der Geschichte der Vereinigten Staaten fiel die diesjährige Amtseinführung des amerikanischen Präsidenten auf den in den USA am dritten Montag im Januar gefeierten Gedenktag zu Ehren von Martin Luther King, Jr. Barack Obama zollte dem grossen Bürgerrechtler Anerkennung indem er seinen Eid auf zwei Bibeln ablegte. Eine davon hatte dem 1968 ermordeten King gehört. Wie bereits beim Antritt seiner ersten Amtszeit 2009 war die Erlösersymbolik unmittelbar: die Vereidigung des ersten schwarzen Präsidenten auf den Stufen des Capitols wurde vom progressiven Amerika wie die Erfüllung des von King 1963 an selber Stelle proklamierten Traums einer post-rassistischen Gesellschaft gefeiert.
Paranoide Gerüchte um Obama
Vermieden wurde in der Inszenierung von Obamas beiden Inaugurationsfeiern dagegen jeder Verweis auf einen anderen Protagonisten des afro-amerikanischen Freiheitskampfes, der Obama in jungen Jahren beeindruckt hatte: „Seine wiederholten Wandlungen sprachen mich an“, schrieb Obama in seinen autobiografischen Aufzeichnungen „Ein amerikanischer Traum“ über Malcolm X. Zu dessen berühmter Autobiographie notierte der zukünftige Politiker die „ungeschliffene Poesie seiner Worte, seine unbedingte Forderung nach Respekt.“
Im Gegensatz zu Martin Luther King reiften die Ideen des Malcolm X nie zu einer kohärenten Vision. Doch diese Feststellung erklärt nicht, warum Malcolm X auch im Amerika Obamas weitgehend negativ assoziiert ist. Sohail Daulatzai, der Autor eines Ende 2012 erschienen Buches über Malcolm X* vertritt die These, dass es in den USA noch heute oft ausreiche, schwarz zu sein, um als „unamerikanisch“ zu gelten. Aber schwarz und Muslim, das werde häufig als „anti-amerikanisch“ eingestuft Die paranoiden Gerüchte um die Herkunft und Religion des jetzigen Präsidenten illustrieren das Misstrauen gegenüber schwarzen Anhängern des Islam und die bis heute andauernde Prägung dieses Feindbildes durch Malcolm X: Nicht nur die Mär, Obama sei ein Muslim, hält sich hartnäckig in von Verschwörungstheorien besessenen Kreisen, sondern dazu noch das Gerücht, Malcolm X sei sein Vater.
Untypisch für die amerikanische Forschung über Malcolm X, welche sich in erster Linie auf seine Rolle im Kampf der schwarzen Bevölkerung für Gleichstellung konzentriert, platziert Daulatzai Malcolm X in die Geschichte der afro-amerikanischen Solidarisierung mit der Dritten Welt. Tatsächlich verfolgte Malcolm X die Internationalisierung der afro-amerikanischen Sache durch ihre Verknüpfung mit der anti-kolonialen Bewegungen der Dritten Welt. Der gemeinsame Glaube an Allah bot sich der schwarzen Minderheit in den USA als Brücke zu einer „globalen Mehrheit“ von Glaubensbrüdern.
Islam made in America
Doch zum „Islam“ hatte Malcolm X über die Nation of Islam (NOI) gefunden, einer Sekte, die sich frei eines islamischen Vokabulars bediente, tatsächlich aber in Glaube und Praxis wenig mit anderen Muslimen teilte. Die „Black muslims“, wie sie der Volksmund nannte, erlangten in den 1950er Jahre vor allem dank der militanten „Black power“-Rhetorik ihres Sprechers Malcolm X einen hohen Bekanntheitsgrad, auch ausserhalb der USA. 1959 lud der ägyptische Präsident Gamal Abdel Nasser eine Delegation der NOI 1959 nach Kairo ein. Spätestens als Cassius Clay alias Muhammad Ali kurz nach seinem ersten Weltmeistertitel im Schwergewichtsboxen zur NOI konvertierte, horchte die islamische Welt auf
Je mehr die Nation of Islam international wahrgenommen wurde und ihre Beziehungen mit Muslimen aus Afrika und dem Nahen Osten ausbaute, desto mehr stieg deren Interesse an der überaus unorthodoxen Doktrin der schwarzen Muslime aus Amerika. Dass Allah sich in den 1930er Jahren in den Nation of Islam in den Armenvierteln von Detroit manifestiert und Elijah Poole (später Elijah Muhammed genannt) als seinen Propheten designiert haben sollte, wie es die NOI damals lehrte, muss für Muslime ausserhalb den USA kaum zu akzeptieren gewesen sein. Wenig ist bisher über die damalige Wahrnehmung der Sekte und ihrer berühmtesten Figur Malcolm X in muslimischen Ländern bekannt.
Ermordung eines Abtrünnigen
Dabei reiste Malcolm X – hauptsächlich nach seiner Trennung von der Gruppe - monatelang durch arabische und afrikanische Länder, gab Interviews, traf Regierungschefs und Oppositionelle. 1964 war er auf seiner Pilgerfahrt nach Mekka offizieller Gast der saudischen Regierung. In Ägypten liess er sich an der Azhar Universität ausbilden und besuchte anschliessend über mehrere Monate Libanon, Gaza, Kuwait, Tunesien, den Sudan und mehrere schwarzafrikanische Staaten. Belegt sind Kontakte mit Vertretern der unter Nasser illegalen Muslimbrüder. Was hielten seine Gastgeber von den religiösen Ideen der Black Muslims?
Im Alter von 39 Jahren wurde Malcolm X 1965 während einer Ansprache im New Yorker Stadtteil Harlem aus nächster Nähe auf dem Podium erschossen. Ein Geschworenengericht sprach drei Mitglieder der NOI des Mordes schuldig, doch mochte dieses Urteil den Fall nicht restlos klären: Zwei der drei Verurteilten bestritten ihre Schuld, der dritte klärte nie, wer ihn beauftragt hatte. Die Nation of Islam wies offiziell jegliche Beteiligung, versuchte aber erst gar nicht, ihre Genugtuung über den Tod des Abtrünnigen zu verbergen.
Revolutionärer Provokateur
Besonders Louis X, der noch heute unter dem Namen Louis Farrakhan die zur Randgruppe verkommenen NOI anführt, gab damals zu Protokoll, der Ermordete habe „den Tod verdient“. Dem New Yorker Polizeidepartement wurden grobe Fehler im Personenschutz am Tag des Mordes und bei der Spurensicherung vorgeworfen, und viele Anhänger von Malcolm X verdächtigten die amerikanische Regierung, eine aktive Rolle gespielt zu haben. Das FBI hatte Malcolm X bei seinen Reisen im Ausland stets beschattet.
Seine Authentizität liegt in seinem Werdegang vom Waisenkind zum Kleinkriminellen zum indoktrinierten Sektensprecher, der die amerikanische Öffentlichkeit mit seinen Verteufelungen der Weissen und seiner Idee der Abspaltung der Schwarzen provozierte. Obwohl er zuletzt durch seine Bekehrung zum orthodoxen Islam seine Ideen stark differenziert hatte, überwiegt im amerikanischen Mainstream noch heute die Erinnerung an die Ablehnung seiner bürgerlichen Identität (sein Taufname war Malcolm Little), seine Verachtung des Christentums als Religion der Sklavenhalter, und sein Misstrauen gegenüber der von der Bürgerrechtsbewegung angestrebten Koexistenz der weissen und schwarzen Volksgruppen.
*Sohail Daulatzai: Black Star, Crescent Moon. The Muslim International and Black Freedom Beyond America, University of Minnesota Press, 2012.