Personalspekulationen und Endzeitdiskussionen sind, man mag es glauben oder nicht, mal keine Erfindungen des permanent aufgeheizten und (zumeist künstlich) erregten politischen Berlin. Die gab es auch schon im weitaus belastbareren, rheinisch nachsichtigeren Bonn. Natürlich war es auch dort nicht immer möglich, aber häufig genug konnten Konflikte gelöst und Schwierigkeiten überwunden werden, indem man erst einmal im berühmten „Kölner Grundgesetz“ blätterte und sich – nicht zuletzt – dessen Artikel 1 und 2 zu Gemüte führte: „Et kütt wie et kütt“ und „Et hätt noch immer jot jejange“. In verständliches Deutsch übersetzt heisst das: „Es kommt, wie es kommt“ und „Es ist noch immer gut ausgegangen“. Dennoch, ob am Rhein oder an der Spree – die Lust, ein Endzeitgefühl zu erleben und auszukosten, war und ist noch immer ungebrochen.
Die Angst vor den Wählern
Jetzt ist es wieder einmal so weit. Kurz vor dem ersten Jahrestag ihrer vierten Vereidigung als Bundeskanzlerin und etwas mehr als ein halbes Jahr nach ihrem Rücktritt als CDU-Vorsitzende lassen sich Medien und nicht wenige Politiker von der Frage umtreiben, ob Angela Merkel vielleicht schon in kurzer Zeit auch als Regierungschefin zu demissionieren gedenke. Oder aber, ob die in der Tat nicht sonderlich stabile schwarz-rote Koalition die nächsten Wochen überleben werde.
Anlässe zu dieser Diskussion braucht man nicht lange zu suchen. Die Europawahl am 26. Mai vor Augen sowie die Furcht vor dem Ausgang der Urnengänge für die Landtage in Bremen, Brandenburg, Sachsen und Thüringen haben die geschundene SPD geradezu verzweifelt nach Themen suchen lassen, mit denen sie sich inhaltlich mal wieder deutlich von CDU und CSU unterscheiden kann.
Und die liegen – traditionell und damit logisch – im sozialen Bereich. Tatsächlich hat die SPD in erster Linie mit einer (schon wie eine Forderung klingenden) Idee den konservativen Koalitionspartner ordentlich in Wallung gebracht. Die Reizworte dabei lauten „Grundrente ohne jegliche vorgelagerte Prüfung von Bedürftigkeit“. CDU und CSU sehen in diesem Vorschlag nicht nur eine Abkehr der – ursprünglich ja sogar von der früheren rot-grünen Regierung Schröder/Fischer eingeführten – Politik des Förderns u n d Forderns. Sondern für sie ist das auch der Abschied von der sowohl in der christlichen wie auch der sozialdemokratischen Soziallehre verankerten Prämisse, wonach zunächst einmal jeder für sich und sein Fortkommen selbst verantwortlich sei. Erst wenn er das nicht könne, müsse die Solidarität der Gesellschaft eintreten. Manche nervösen Unionisten erkennen darin schon eine Bombe. Doch wer genauer hinschaut, wird gewiss noch keinen Zünder erkennen. Zumal sich noch kein seriöser SPD-Mensch der Mühe unterzogen hat, die Kosten eines solchen, bedingungslosen Grundeinkommens auch nur überschlägig zu berechnen.
Wahlen ohne Merkel
Keine Frage indessen, wer scharfe Ohren hat, wird das Rasseln der Koalitionsketten und das Läuten von diversen Alarmglocken nicht überhören. Diese Geräusche kommen allerdings nicht aus dem Kanzleramt. Als sich Angela Merkel Ende Oktober vorigen Jahres (nach herben Verlusten auch von CDU und CSU bei den Landtagswahlen) vom Parteivorsitz verabschiedete, tat sie das mit einer klaren Vorgabe: 1. Die Regierungsarbeit wird bis zum Schluss der laufenden Wahlperiode 2021 fortgeführt. 2. Aber kein Engagement mehr in der Partei und bei Wahlkämpfen. Und in der Tat hat sich Merkel erkennbar aus dem aktuellen Europa-Wahlkampf herausgehalten und wird dies vermutlich nicht anders bei den anstehenden Landtags-Entscheidungen tun.
Freilich ist der Boden brüchig, auf dem solche Vorsätze fussen. Im Moment allerdings kann sich die Kanzlerin über erstaunlich positive Zustimmungswerte aus der Bevölkerung freuen; eine satte Mehrheit von zwei Dritteln der Deutschen äussert sich grundsätzlich positiv über sie. Ja, rund 80 Prozent der Befragten geben sogar an, mit den Lebensumständen und dem demokratischen System des Landes zufrieden zu sein. Doch wieweit dieses Gefühl sich auch an den diversen Wahlurnen manifestieren wird, ist äusserst ungewiss. Denn nach wie vor köchelt unter der freundlichen Oberfläche der Unmut über die Merkelsche Flüchtlingspolitik, gepaart mit einer diffusen Angst vor „den Fremden“ und einer angeblich von ihnen importierten Kriminalität sowie dem Ärger wegen angeblicher oder tatsächlicher Ungerechtigkeiten bei der Vergabe von Wohnungen, Kindergarten- und Schulplätzen usw.
Taktische Überlegungen
An Fragen, Beschwerden, Sorgen und Ängsten wie diesen werden sich mit hoher Wahrscheinlichkeit die bevorstehenden Wahlen entscheiden. Oder sie werden zumindest erheblich davon beeinflusst werden. Insofern ist es durchaus denkbar, dass der Rückzug Merkels aus der Parteipolitik und von der Wahlkampfführung von vornherein mit taktischen Überlegungen verbunden war. Ärger, Unmut, ja mitunter bis zum Hass reichende Ablehnung des massenhaften Ausländerzuzugs haben sich bekanntlich besonders im Osten Deutschlands ausgebreitet – also in der Herkunftsregion der Kanzlerin. Ihre Nachfolgerin an der CDU-Spitze, die Saarländerin Annegret Kramp-Karrenbauer, verwendet in der Immigranten-Frage bereits eine deutlich andere Sprache. Zufall? Wohl kaum. In dieser Strategie steckt ganz sicher die Hoffnung der CDU, verlorene Wähler und Terrains zurück zu gewinnen und dennoch das Kanzleramt und die Regierungsfähigkeit nicht zu beschädigen.
Bei alledem herrscht, nicht nur in Berlin, grosse Unsicherheit hinsichtlich des Ausgangs der Wahlen zum neuen Europaparlament. Möglicherweise führen die Auseinandersetzungen über „Brüssel“ zu noch stärkerem Anwachsen von Populisten links und rechts. Oder aber bringt vielleicht das Possenspiel um den EU-Austritt der Briten bei den Bürgern die Einsicht, welch ein kostbares Gut diese Europäische Union ungeachtet ihrer Schwächen in der Geschichte dieses Kontinents für alle ist? Aber da sind trotzdem noch die „Denkzettel“-Sympathisanten, die einfach bloss jenen folgen, die ein „Dagegen“ versprechen. Welche innenpolitischen Reaktionen wird es auslösen, sollten die Sozialdemokraten noch tiefer fallen und auch die Konservativen ordentliche Hiebe von den Wählern verpasst bekommen?
Artikel wie dieser sollten eigentlich klare Aussagen enthalten und keinen Berg von Fragen. Zumal dann nicht, wenn ein Griff ins Archiv zutage fördert, dass ziemlich genau vor zwölf Monaten in den Medien und der Gesellschaft ebenfalls schon haufenweise genau diese Fragen und Argumente gestellt und ausgetauscht worden waren. Nur mit dem Unterschied, dass vor einem Jahr das schwarz-rote Regierungsbündnis gerade erst mühsam zusammengeschnürt und trotzdem sofort in Frage gestellt worden war. Jetzt kann es immerhin auf ein Jahr gar nicht so schlechter Arbeit blicken. Und Angela Merkel?
Rücktritt? Gar nicht so einfach
Abgesehen davon, dass es weder zu ihrer Art noch zu ihrem Wesen passen würde, Dinge (noch dazu vielleicht sogar unerledigte) einfach hinzuschmeissen oder liegenzulassen – es wäre auch gar nicht so einfach, wie es sich manche Mitbürger vorstellen. Das vor 70 Jahren entstandene Grundgesetz (die jetzige Verfassung) wurde von Menschen geschaffen, die noch ihre Erfahrung mit der labilen Weimarer Republik hatten. Im heutigen Deutschland gilt die rechtlich-politische Vorschrift von staatlicher Stabilität und geordnetem Übergang der Macht. Wenn sich also in Umfragen eine Mehrheit der Deutschen für Neuwahlen im Falle eines Rücktritts der Kanzlerin ausspricht, beweist das zunächst nur eine (zumindest partielle) Unkenntnis der Verfassung.
Einfach mal gesetzt den Fall, Merkel träte tatsächlich vom Amt zurück und/oder die SPD liesse aus politisch-inhaltlichen Gründen das schwarz-rote Bündnis platzen. Dann müsste auf alle Fälle zunächst versucht werden, eine neue Regierung mit entsprechender parlamentarischer Mehrheit auf die Beine zu stellen. Unter den obwaltenden Umständen wäre als Erste die CDU/CSU mit ihrer Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer (AKK) gefordert. In diesem Fall spräche die Wahrscheinlichkeit für eine Neuauflage des im Herbst 2017 an der FDP gescheiterten Versuchs, vielleicht doch mit den Grünen und den Liberalen ein „Jamaika-Bündnis“ hinzuzaubern. Immerhin hat der schneidige FDP-Chef, Christian Lindner, bereits durchblicken lassen, er stünde zur Übernahme von „Verantwortung“ durchaus bereit, wenn … Nein, Merkel-Rücktritt fordern (wie der ziemlich weit rechtsaussen angesiedelte „Werteunion“-Flügel der CDU) und – wie AfD und Die Linke – nach Neuwahlen zu rufen, ist sehr viel leichter als solche durchzuführen.
„Keine Merkel-Dämmerung“
Mit einer erstaunlichen Sicherheit vertritt in der ganzen Aufgeregtheit Manfred Güller, der Chef des Meinungsforschungs-Instituts Forsa, die Überzeugung, es gebe in Deutschland keine „Merkel-Dämmerung“. Anders als 1998, als tatsächlich viele sich ein Ende der Kanzlerschaft von Helmut Kohl wünschten, sei – so Güllner – „2019 von einer ähnlichen ’Merkel-Dämmerung‘ nichts zu spüren. Ganz im Gegenteil: Angesichts der krisenhaften Entwicklungen in der Welt sieht heute die Mehrheit der Bundesbürger keine Alternative zu Merkel“. Soweit der Meinungsforscher. Das entscheidende Wort indessen haben in den kommenden Monaten die Wähler. Und dann wird sich zeigen, ob die Dauerlust am Endzeitgefühl zum deutschen Lebensmotto wird.