Selber wollte er über Form und Gestalt seiner neuen Oper entscheiden, vor keinen Konventionen aus Paris, oder woher auch immer, wollte er sich beugen. In allen dramaturgischen, ästhetischen und musikalischen Fragen verlangte er vollkommen freie Hand. In einem Brief an Camille Du Locle, den Direktor der Opéra Comique in Paris, der bei der Entstehung der „Aida“ eine wichtige Rolle spielen sollte, schrieb Verdi 1869, es mache Sinn, „dass schliesslich alles von mir abhängt, dass ein Wille allein alles beherrscht: der meine.“
Pracht und Intimität
Die Oper Aida ist ein grandioses Geflecht szenischer Prachtentfaltung und zarter Intimität zwischen den Protagonisten, ein exotisches Spektakel von Priestern und Kriegern auf der einen, und ein Seelendrama der Liebenden auf der anderen Seite. Wer die Oper „Aida“ vor allem ob ihrer Massenszenen, Triumphmärsche und Trompetenfanfaren bewundert, überhört, dass Verdi gerade für die Gefühlsskala der Liebenden hier eine ganz neuartige Musiksprache erfindet.
Mit genialen musikalischen Lösungen überrascht uns Verdi auch dort, wo es um die Rigidität und stumpfe Herzenshärte der ägyptischen Priesterkaste und ihres Anführers Ramphis geht. Ebenso, wo die uneinsichtige väterliche Gewalt des äthiopischen Herrschers Amonasro geschildert wird, der seine Tochter Aida nur als Spionin benützt, um sich für die Schmach seiner Niederlage und Gefangenschaft an den Ägyptern zu rächen. Verdis Klangfarbenkunst im Umgang mit dem Orchester ist in dieser Oper eigen und exotisch zugleich. Am Nil hat die Welt eben anders als in Mailand zu klingen. In diesen fremdartigen Farbenreichtum der Klänge lässt uns Verdi immer wieder eintauchen.
Krieg und Liebe
Radames, von dessen Liebe zu Aida wir gleich zu Beginn der Oper in seiner Auftrittsarie „Celeste Aida – Himmlische Aida, göttliche Gestalt“ erfahren, wird nach Befragung der Göttin Isis durch den obersten Priester Ramphis zum Anführer der Ägypter im Kampf gegen die anstürmenden Äthiopier erkoren. Aida ist die in Gefangenschaft lebende Tochter des äthiopischen Königs Amonasro und liebt ihrerseits den Ägypter Radames. Dieser aber wird gleichzeitig von Amneris, der Tochter des ägyptischen Königs, begehrt. Amneris erlistet sich klug die Gewissheit, dass sie in der „Sklavin“ Aida eine mächtige Nebenbuhlerin hat.
Als Radames erfolgreich aus dem Kampf gegen die Äthiopier nach Theben zurückkehrt, hat er auch Aidas Vater im Gefolge der feindlichen Gefangenen. Radames erbittet als Siegerlohn die Freilassung der Äthiopier. Als ungewollten „Lohn“ für seine Heldentaten erhält Radames vom König Amneris zur Braut, mit der er später einmal in Ägypten herrschen soll. Der Oberpriester Ramphis erwirkt vom König, dass Aida und ihr Vater Amonasro als Geiseln bei den Ägyptern zurückbleiben. In Aidas Herzen entbrennt ein bitterer Kampf zwischen Loyalität zu ihrer Heimat und ihrer innigen Liebe zum „Feind“ Radames.
Verstockte Priester
Amonasro zwingt seine Tochter, aus Radames, der einen neuen Feldzug gegen die aufständischen Äthiopier anführen soll, Kunde über den geheimen Ort des Aufmarsches der ägyptischen Truppen zu erpressen. Damit wird Radames zum „Verräter“ an seinem Vaterland. Vor der ihn des Hochverrats anklagenden und zur Todesstrafe verurteilenden Priesterschaft verteidigt sich Radames mit keinem Wort. Amneris, die verzweifelt und glücklos Liebende, tut alles, um Radames zu retten.
Doch die Priester lassen nicht mit sich reden. Der Hochverräter Radames wird in einem unterirdischen Gewölbe des Vulkantempels lebendig eingemauert. In der letzten Szene, wenn sich der Stein der Grabhöhle geschlossen hat, entdeckt Radames, dass Aida sich – von allen unbemerkt – in die für Radames vorgesehene Todeskammer eingeschlichen hat, um gemeinsam mit ihrem Geliebten zu sterben. Der Schluss verklingt ganz leise. Geigen in grosser Höhe, von Harfenakkorden getragen, als würde sich alles Irdische in Lichtstaub auflösen und alles Menschliche leise und leicht in ein Kosmisches übergehen. Verdi erzeugt am Ende dieses Liebestodes mit den Mitteln der Musik eine so ätherisch leuchtende Transparenz, wie man ihr sonst schwerlich auf Opernbühnen begegnet.
Die „Nilarie“
Wir hören hier aber nicht diesen magischen Schluss der Oper, denn dieser ist ein Duett und keine Arie. Verdi hatte für die Ausführung der Partitur mehr Zeit als geplant, weil die Uraufführung der Oper aufgrund der Kriegswirrnisse von 1870 verschoben werden musste. In Kairo kam die Oper im Dezember 1871 zur Uraufführung, im darauf folgenden Februar war sie bereits in Mailand zu hören. In der Wartezeit ergänzte und „veredelte“ Verdi immer wieder das Werk. Zu den spätesten, aber glücklichsten Ergänzungen gehört die sogenannte „Nilarie“ der Aida, wo Verdi – wie er in einem Brief an seinen Librettisten Ghislanzoni schrieb – die Zuhörer „den Duft Ägyptens“ spüren lassen wollte.
Wir sind am Nilufer. Granitfelsen, zwischen denen Palmen wachsen, steigen in die Höhe, auf der sich ein Tempel der Isis befindet. Aida erscheint auf der Bühne, sie erwartet mit bangen Gefühlen Radames. Was wird er ihr mitteilen? Will er vielleicht für immer von ihr Abschied nehmen? Soll sie in den dunklen Wellen des Flusses ihr Grab und damit Frieden und Vergessen finden?
Die Arie, die auf dieses einleitende Rezitativ folgt, gehört zu den berührendsten, die je das Gefühl in Musik verwandelt haben, die eigene Heimat und Kindheit, die Unbeschwertheit und das Jugendglück für immer verloren zu haben. „O patria mia, mai più ti rivedrò – O du, meine Heimat, niemals werde ich dich wiedersehen.“ Verdi ist hier die musikalische Verwandlung der Seelennot aller in und an der Fremde Leidenden in einzigartiger Weise gelungen. Aida erinnert sich an die blauen Himmelsweiten Äthiopiens, an die zarte Luft der Morgenstunden, an die begrünten Hügel und an den Geruch der Uferlandschaften. Für immer vorbei ist das Glück, das sie empfand, wenn sie im Schutz der kühlen Täler sich dem ersten jugendlichen Liebestraum hingab. All dies ist für immer dahin. So etwas wird es nie mehr geben, „mai più!“ Es ist eine Musik über vergangenes Glück und verlorene Träume, inmitten einer Landschaft, die nichts mehr als gerade diese Liebessehnsucht evoziert.
Die grösste Aida aller Zeiten?
Das hohe C dieser Arie, nicht hinausgestossen und gebrüllt, sondern „dolce“ gesungen, weich und leise und doch innig und von Abschiedstrauer erfüllt, so wie Verdi es sich wünschte: Wer beherrschte diese Kunst wohl am besten? Darüber streiten sich Opernfans bis heute. Mit Teresa Stolz, Verdis Freundin und bevorzugter Sopranistin dieser Lebensphase, beginnt die Reihe jener Sängerinnen, die die Figur der Aida mit einer legendären Aura umgeben haben. Den ersten Aidas der Geschichte kann man sich nur mit Hilfe von Beschreibungen ihrer Stimme durch Musiker, Dichter und Kritiker annähern. Seit es Tonaufnahmen gibt, darf man die eigenen Vorlieben walten lassen.
Gewiss waren Rosa Ponselle und Elisabeth Rethberg, Renata Tebaldi und Maria Callas, Montserrat Caballé und Martina Arroyo, Margaret Price und heute Anna Netrebko Sopranistinnen, die sowohl in den dramatischen wie in den lyrischen Partien der Aida ihr Publikum zu bezaubern und zu begeistern wussten. Einen gewissen Sonderruhm in dieser Rolle darf allerdings die Amerikanerin Leontyne Price für sich beanspruchen. Allein an der MET in New York hat sie 42 Aufführungen der Aida gesungen. Als sie sich von der Opernbühne zurückzog, wählte sie die Nilarie als Abschiedsgeschenk an ihr Publikum. Von keiner anderen Sängerin gibt es heute auf youtube mehr Aufnahmen der Nilarie. Man kann wählen, zwischen Aufnahmen der Jahre 1955 bis 1985. Aida am Nil, gestaltet von der gleichen Sängerin, über 30 Jahre hinweg! Hier ausgesucht ist die Aufnahme ihrer Abschiedsgala an der MET aus dem Jahr 1985.