"Das Wirtschaftswunderland China", die "künftige Weltmacht China", die "neue Supermacht" - so und ähnlich wird das Reich der Mitte mit einer Mischung aus Neid, Angst und Bewunderung im Westen medial vermittelt wahrgenommen.
Mit glasigen Augen blicken Unternehmer und Ökonomen nach Shanghai, Peking und darüber hinaus. Während nach der Finanz- und Wirtschaftskrise in Europa und Amerika die Konjunktur sich nur langsam erholt, meldet das Statistische Amt der Volksrepublik China für die ersten beiden Quartale des laufenden Jahrs satte Wachstumszahlen, nämlich 11,9 % beziehungsweise 10,3%. Mit Spannung wird deshalb das Wachstum des Brutto-Inlandprodukts (BIP) für das dritte Quartal erwartet.
Maos "Marxismus-Leninismus" ist Vergangenheit
Von solchen Wachstumszahlen können die Regierenden in den Industrieländern nur träumen. Allerdings ist China auf hohes Wachstum angewiesen. Die Legitimität der allmächtigen Kommunistischen Partei (KP) gründet nämlich nur noch in Sonntagsreden auf dem Marxismus-Leninismus-Mao Dsedong-Denken.
Im chinesischen Staatskapitalismus - offiziell "sozialistische Marktwirtschaft chinesischer Prägung" - geht es für die Partei darum, den "Massen" jedes Jahr ein wenig mehr Wohlstand zu geben und die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich, Stadt und Land wenn nicht abzubauen, so doch in einem erträglichen Rahmen zu halten. Das ist die offizielle Parteilinie nach dem alten konfuzianischen Prinzip der Harmonie. Das Land brauche "soziale Stabilität", das war und ist das Credo der KP.
Die leicht sinkenden Wachstumszahlen sind für Partei und Regierung sowie für chinesische Denkfabriken deshalb Grund zur Sorge. Denn ohne Stabilität und Harmonie, so die Denkweise, gibt es kein nachhaltiges Wachstum. Premierminister Wen Jiabao gibt unumwunden zu, dass sich China "bei seinen makroökonomischen Massnahmen einem unerwartet grossen Dilemma gegenübersieht".
Wolkenkratzer an der Küste, Armut im Landesinneren
Mehrere Ökonomen renommierter Universitäten und Denkfabriken, die Zentrale Parteischule eingeschlossen, setzen in ihren Analysen der gegenwärtigen Situation grosse Fragezeichen. Ein Faktor, der in westlichen Analysen gerne übersehen wird, liegt auch darin, dass China nicht eine kompakte Wirtschaft ist.
In der westlichen Wahrnehmung werden Shanghais Wolkenkratzer aus Glas, Stahl und Beton mit allem, was das symbolisch ausdrückt zum Massstab genommen. Vergessen bleibt, dass es neben dem reichen Küstengürtel im Innern und im Westen des Landes eine zweite Volkswirtschaft gibt, die auch ganz offiziell als "Entwicklungsland" eingestuft wird.
Mit andern Worten: sind in China die Grenzen des Wachstums erreicht? Nach drei Reformjahrzehnten mit einem jährlichen Durchschnittswachstum von 9,5% war schon längere Zeit klar, dass die chinesische Wirtschaft im nächsten Jahrzehnt weniger schnell wachsen wird.
Acht Prozent Wachstum sind nötig
Die Frage bleibt, politisch wie sozial brisant, um wie viel. Die magische Zahl lautet acht Prozent. Diese Zahl wurde einst 1982 vom grossen Revolutionär und Reformer Deng Xiaoping auf Anraten seiner Wirtschaftsberater definiert.
Die Dengsche Frage lautete damals, mit welchem Wachstumsfaktor das BIP bis zur Jahrhundertwende vervierfacht werden könne. Dieses Ziel wurde längst erreicht und übertroffen, die magische Zahl jedoch blieb. Ein mindest acht-prozentiges Wachstum, so chinesische Volkswirte, sei heute nötig, um jährlich die nötigen neun Millionen neuen Arbeitsplätze zu schaffen.
China hat die globale Wirtschafts- und Finanzkrise relativ gut überstanden. Mit einem Konjunkturpaket in der Höhe von vier Billionen Yuan (rund 600 Milliarden Schweizer Franken) wurde ab November 2008 vor allem in Infrastruktur und Immobilien investiert.
Angst vor einer Immobilienblase
Die Wirtschaft hat sich, obwohl Millionen von Arbeitsplätzen verloren gingen, einigermassen erhohlt. Weil aber drei Viertel des Konjunkturprogramms von den (staatlichen) Banken finanziert wird, Provinz- und Lokalregierungen massiv im Grundstückhandel als lukrative Finanzquelle tätig sind, sowie chinesische Immobilien-Unternehmer mit Luxuswohnungen und Büro-Türmen die Spekulation anfachten, wird die Furcht vor einer Immobilienblase immer grösser.
Zwar hat die Zentralregierung Gegensteuer gegeben mit strikteren Auflagen sowohl für Private Wohnungskäufer, Spekulanten und Kommunen, doch die Gefahr ist noch nicht abgewendet.
Nachhaltigkeit statt unbegrenztes Wachstum
Harvard-Ökonom Rogoff glaubt gar, dass der in naher Zukunft eintretende Zusammenbruch des Immobiliensektors das staatliche Bankensystem Chinas empfindlich treffen werde. Viele chinesische Ökonomen sehen sich gar an die japanischen Zustände Ende der 80er-Jahre erinnert, als die Immobilienblase platzte und die Wirtschaftsgrossmacht danach zwei verlorene Jahrzehnte zu beklagen hatte.
Allerdings: Das allmächtige Politbüro der KP unter der Führung von Staats- und Parteichef Hu Jintao und Premierminister Wen Jiabao wird alles daran setzen, das Schlimmste zu verhüten. Bei der Wachablösung 2012 wollen sie ein "stabiles und harmonische Land" an die nächste Führungsgeneration übergeben.
Mit Hus und Wens Leistungsausweis der letzten acht Jahre jedenfalls sind die Prognosen nicht schlecht. Die Grenzen des Wachstums allerdings sind wohl erreicht. "Nachhaltigkeit" wird wohl neben "Harmonie" und "Stabilität" das vierte Reformjahrzehnt bis 2019 prägen.
Peter Achten aus Fernost_02: Made ind Nordkorea