Noch nie seit Ende des 2. Weltkriegs war die extreme Rechte in Frankreich so nahe an der Macht wie jetzt. Und doch dürfte es für ihre Kandidatin Marine Le Pen am Ende auch diesmal, bei ihrem 3. Anlauf, nicht reichen.
Die letzten Schlachten sind geschlagen, die letzten Wahlkampfveranstaltungen abgehalten worden und das traditionelle Fernsehduell vor der Stichwahl, das es in dieser Form seit 1974 gibt, die so genannte «Grosse Messe», ist am Mittwoch über die Bühne gegangen.
Das Duell
Eines ist sicher: diese dreistündige Debatte zwischen Emmanuel Macron und Marine Le Pen ist nicht zu Gunsten der rechtsextremen Kandidatin ausgegangen. Le Pen habe ihr Rendez-vous gegen einen offensiven Macron erneut verpasst, titelte «Le Monde». Le Pen zeigte sich in Wirtschaftsfragen erneut unterbemittelt, unfähig zu erklären, wie sie ihre Massnahmen finanzieren will, und sie konnte unter den beissenden Argumenten von Macron auch nicht mehr ihre seit zehn Jahren andauernde Nähe zu Wladimir Putin verbergen, was ihr in den Wochen davor durchaus gelungen war.
In Umfragen unmittelbar nach dem Duell sahen zwei Drittel der Befragten den amtierenden Präsidenten eindeutig als den kompetenteren Kandidaten.
Gleichzeitig ist bei den bis gestern veröffentlichten Meinungsumfragen für die Stichwahl am Sonntag der Abstand zwischen Macron und Le Pen in den letzten zwei Wochen kontinuierlich grösser geworden und hat sich bei mehr oder weniger 57 zu 43 Prozent eingependelt. Was immer noch heissen würde, dass Le Pen innerhalb von 5 Jahren um 10 Prozent zugelegt hätte und heute rund 15 Millionen Franzosen bereit sind, bei der Wahl der Wahlen für die extreme Rechte zu stimmen.
Die Präfekten
Und doch gilt es, trotz der Tendenz der Meinungsumfragen, bis zuletzt Vorsicht walten zu lassen. Man denke nur daran, dass der Kandidat der Linkspartei, Jean-Luc Mélenchon, im 1. Wahlgang am Ende ganze 4 Prozent mehr erreichte, als ihm die optimistischsten Umfragen nur 72 Stunden vor der Wahl prophezeit hatten.
Und wie gefährlich nahe Marine Le Pen diesmal dem Élysée-Palast kommt, mag man auch daraus ersehen, dass die Präfekten und Unterpräfekten, das Paradecorps der Verwaltung dieses französischen Zentralstaates, in gewisser Weise das Rückgrat der Republik und der verlängerte Arm der Regierung und des Präsidenten in allen Departements, dass diese normalerweise extrem diskreten Spitzenbeamten, laut der Tageszeitung «Le Monde», in den letzten Wochen untereinander heftig diskutierten, wie man sich bei einem Wahlsieg von Marine Le Pen verhalten solle. Ein beträchtlicher Teil unter ihnen denkt für diesen Fall angeblich daran, den Job zu kündigen.
Le Pens Programm
Die 14 Tage zwischen den beiden Wahlgängen haben unter anderem auch dazu gedient, dass sich die Medien und die Öffentlichkeit endlich einmal näher mit dem Programm von Marine Le Pen beschäftigt haben, welches die Kandidatin über Monate hinweg sehr geschickt mehr oder weniger versteckt hatte.
Marine Le Pen hatte es zustande gebracht, als die volksnahe Kandidatin zu erscheinen, welche die kleinen Leute und die Globalisierungsverlierer und deren Sorgen versteht und sich in den sozialen Netzwerken unter anderem als Tierfreundin und Mutter von sechs Katzen inszeniert.
Doch ihr Programm ist knallhart, ja brutal und tendiert eindeutig dahin, gleich mehrere rechtsstaatliche Prinzipien auszuhebeln und über kurz oder lang aus Frankreich einen illiberalen Staat nach dem Model ihres Spezis Victor Orban zu machen. Mit dem Unterschied, dass Frankreich, anders als Ungarn, nun eben mal eine Atommacht ist, einer der wichtigsten Pfeiler in der EU und einen ständigen Sitz im UN- Sicherheitsrat hat.
Le Pens wichtigstes Vorhaben: die so genannte «Referendumsrevolution». Gleich zu Beginn ihrer Amtszeit würde sie ein Referendum zum Thema Immigration auf den Weg bringen wollen, welches die Verfassung ändern soll, um das von ihr immer wieder beschworene Prinzip der «Nationalen Priorität» festzuschreiben.
Ein Vorhaben, das schlicht und einfach illegal wäre, denn laut bestehender Verfassung darf selbige nicht per Referendum geändert werden, sondern bräuchte die Zustimmung der beiden Parlamente. Doch die Kandidatin der Rechtsextremen gedenkt, nach der Devise «das Volk ist der Souverän» sich darüber hinwegzusetzen, was so mancher heute schon als Staatsstreich bezeichnet.
Le Pens «Nationale Priorität» soll laut Programm die Zuwanderung so weit einschränken, dass die «Zusammensetzung und Identität des französischen Volkes nicht verändert» werde.
Konkret würde das für in Frankreich lebende Ausländer heissen: Die Familienzusammenführung wird fast unmöglich gemacht, die französische Staatsbürgerschaft ist nicht mehr durch Heirat zu erhalten, das seit der französischen Revolution geltende «Ius solis» würde abgeschafft, ebenso de facto das Asylrecht, da Anträge auf Asyl nur noch im Herkunftsland bei der jeweiligen französischen Botschaft gestellt werden könnten .
Französische Staatsbürger hätten Priorität beim Zugang zur Arbeit in der Privatwirtschaft und im öffentlichen Dienst, zu Sozialwohnungen und zu Sozialleistungen, welche ein Ausländer erst erhalten solle, wenn er fünf Jahre im Land gelebt hat. Die Aufenthaltsberechtigung werde jedem entzogen, der mehr als ein Jahr nicht gearbeitet hat und die Familienbeihilfe für Ausländer abgeschafft. Und, was natürlich nicht fehlen darf, wäre das Verbot des islamischen Kopftuchs im gesamten öffentlichen Raum.
Massnahmen, so Emmanuel Macron in der Fernsehdebatte, mit denen Marine Le Pen nicht weniger als einen Bürgerkrieg auslösen würde. Und Massnahmen, welche ganz eklatant dem Geist der revolutionären Proklamation von 1789, «Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit», der 1948 in Paris verabschiedeten universellen Erklärung der Menschenrechte, sowie der Präambel der französischen Verfassung widersprechen würden.
Die Stimmen von Mélenchon
Mit entscheidend für das Wahlergebnis am Sonntagabend wird sein, wie sich die rund 7,7 Millionen Wähler verhalten werden, die am 10. April für den Linkskandidaten Mélenchon gestimmt hatten. Über 40 Prozent von ihnen, so heisst es, würden sich der Stimme enthalten bzw. ein leeres Couvert in die Urne werfen, 35 Prozent, wenn auch mit langen Fingern und zugehaltener Nase, für Macron votieren und immerhin 20 Prozentz der Mélenchon-Wähler würden ihre Stimme Marine Le Pen geben. Es war konsternierend, zwischen den Wahlgängen Reportagen zu hören und zu sehen, in denen diese Wähler einfach sagten, sie seien eben gegen das System und wollten jetzt einmal «Le Pen versuchen», so als ginge es darum, mal ein anderes Auto auszuprobieren.
Parlamentswahlen am Horizont
Jean-Luc Mélenchon, der mit seinen knapp 22 Prozent die eigentliche Überraschung des ersten Durchgangs der Präsidentschaftswahlen war – nicht mal 500'000 Stimmen hatten ihm gefehlt, um Marine Le Pen auf Platz 3 zu verweisen – er versucht, sein gutes Ergebnis bei den Präsidentschaftswahlen nun bei den Parlamentswahlen am 10. und 17. Juni zu versilbern. Er appelierte an die Wähler, ihn zum Premierminister zu machen, mit anderen Worten, dafür zu sorgen, dass es wieder zu einer Kohabitation kommen würde zwischen einem Präsidenten und einem Premierminister aus gegensätzlichen politischen Familien und Macron ein Präsident wäre, der im Parlament keine Mehrheit hätte.
Kaum hatte der Linksaussen Mélenchon diesen Appell in Umlauf gesetzt, konnte man einen ähnlichen aus dem ultrarechten Lager lesen. Marion Maréchal, Marine Le Pens Nichte, die sich auf die Seite des radikal Rechten, Eric Zemmour, geschlagen hat, plädierte in einem Figaro-Gastbeitrag mit Blick auf die Parlamentswahlen für eine Art Koalition zwischen Teilen der traditionellen und der extremen Rechten.
Sicher scheint heute schon, dass Macron im Falle eines Wahlsiegs nach 5-jähriger, von gleich mehreren Krisen bestimmten Amtszeit, diesmal im Parlament nicht noch einmal über eine so komfortable Mehrheit verfügen wird wie in der abgelaufenen Legislaturperiode.