In Umbruchsperioden, wie wir sie gegenwärtig erleben, scharen charismatische Menschen ihre „Jünger“ und Adlaten um sich. Ja, gerade in unsicheren Zeiten, da vertraute Verhaltensmuster erodieren und soziale Ängste und Unsicherheiten aufkommen, profilieren sich diese begabten Rhetoriker als Ratgeber und selbsternannte Schiedsrichter. Sie wissen, was wahr ist und wer richtig handelt. Im Hintergrund, unsichtbar für die Massen, sind sie permanent angetrieben von starkem persönlichem Machtstreben.
Mythen als Skript
Solche „Herrscher“, gute und schlechte, kennt jedes Jahrhundert. Besonders erfolgreich sind ihre Botschaften dann, wenn es ihnen damit gelingt, ein grosses (mediales) Echo in der Gesellschaft zu erzeugen. Das uralte Skript dazu ist das Zelebrieren von Mythen, die in der Gesellschaft stark verankert sind, dem Überbringer Macht und Legitimität verleihen und damit geradewegs ins Herz der Gesellschaft hineinwirken und diese stark beeinflussen können. Dies wussten bereits die alten Griechen zu Homers Zeiten.
Die daraus entstandenen Gruppen (heute z.B. auch politische Parteien), machen die Ideen ihres Anführers zum symbolischen Kapital. Der Gruppe angehörende „wissenschaftliche“ und andere Experten repräsentieren dann diese Form des Wissens, diese Programme, und leiten daraus ihre Legitimität zur (medialen) Verkündung ab. „Schliesslich gehören ihr bei der breiten Masse beliebte Zeitfiguren an, deren Befugnisse als „Seelenheiler“ sich von ihrem traditionellen Charisma herschreiben“. (Dieses Zitat und weitere in diesem Beitrag stammen aus: „Die Errettung der modernen Seele“, von Eva Illouz, der bekannten und geschätzten Soziologin).
Natürlich sind diese Massenbeeinflusser davon überzeugt, „das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft zu verstehen, die Mysterien des Glaubens und politischer Massenbewegungen entziffert zu haben“ […].
Charismatische Personen
Die Botschaften dieser „Herrscher“ sind in einem gewissen Sinn eigentliche Gedankengebäude, um nicht zu sagen „Glaubenslehren“. Entwickelt und getragen von einem Menschen, der die Fähigkeit besitzt, seinen Anhängern sowohl Disziplin, als auch Verehrung abzuverlangen. Charismatische Personen, eben.
„Charismatisch“, eigentlich eine bewundernswerte Eigenschaft! Charismatische Macht speist sich, gemäss Max Weber, aus aussergewöhnlichen persönlichen Fähigkeiten wie Standhaftigkeit, Willensstärke und dem Einsatz für das Wohl anderer. OK, das haben wir verstanden. Doch taucht jetzt nicht, für unbeirrbar Selbstdenkende, sogleich die wichtige Frage auf: Wer definiert das Wohl der anderen? Und welchen Weg hätten diese einzuschlagen, um ihr Leben zum eigenen Wohl zu lenken?
Wer sich nicht in der Lage sieht, diese Fragen (für andere) zu beantworten, darf sich wohl selbst nicht „charismatisch“ bezeichnen. Um es nochmals mit Max Weber zu sagen, wenn „das Charisma nur […] innere Bestimmtheiten und Grenzen seiner selbst [kennt]“, dann trifft dies allerdings auch auf uns bekannte, politisch sehr aktive Männer in der Schweiz zu. Volks(ver)führer strahlen eine gewaltige Kraft aus, eine unglaubliche Energie, die im Dienst ihres einzigen Ziels steht. Ihr Lebenswerk ist von ausserordentlicher Entschlossenheit geprägt, den eigenen Ideen zur Geltung zu verhelfen.
Gelingt dies nicht immer, sind sie zu tiefst beleidigt. Sie können wohl nie verzeihen. Doch sogleich, als Antwort, verdoppeln sie ihre Anstrengungen.
Das Heil des Menschen
„Ein weiterer Aspekt der charismatischen Führungsgestalt besteht darin, dass sie in den Augen der Menschen um das Heil anderer besorgt sind.“ Dies zeigt sich auch darin, dass sie ihre unangefochtene Autorität nur durch Bewährung ihrer Kräfte im Alltag schöpfen und erhalten kann. Jenen, die sich ihr „gläubig“ hingeben, muss es wohlergehen. Deshalb entwickeln sie gesellschaftliche und kulturelle Strategien zur persönlichen Zielerreichung. Und um weniger wissenden Mitmenschen die Bewältigung des Alltags mit seinen Stolpersteinen „mit Sicherheit“ zu garantieren.
Im Unterschied zu den antiken Griechen benützen sie in der Gegenwart dazu beispielsweise „Extrablätter“, in alle Haushalte gratis verteilt. Sie müssen auch nicht alles selbst verkünden: Professoren, Bundesrichter, Ständeräte, Nationalrätinnen und Regierungsräte, Chefredaktoren, alle „unabhängig“, engagieren sich fleissig bei der Verkündung und Verbreitung dieser „bleibenden Werte“ im Sinne ihres Mentors.
„Doch in einem gewissen Sinne matchentscheidend bleibt, dass der charismatische Führer auf Tuchfühlung mit einem der wirklich wesentlichen Aspekte der menschlichen Existenz und des Kosmos, in dem er lebt, zu sein hat oder zumindest so wahrgenommen werden muss“, schreibt Illouz weiter. Frei und unabhängig bleiben und dabei schweizerische Werte bewahren – könnte man diese Eigenschaften für unser Land als zeitgemässe Kernbotschaften zelebrieren? Um auf Tuchfühlung mit dem Kosmos, in dem er und seine Verehrer selbst leben, zu bleiben, eignen sich grosse Säle, auch Tagungen und Vortragstournees.
Die professionelle Organisationsstruktur
Entscheidend für den Erfolg dieser Kernbotschaften ist die eigene perfekte Organisationsstruktur, durch die Ideen, Mythenerzählungen und deren Bedeutung geschleust und kopiert werden müssen. Erst so wird Charisma in allgegenwärtige „Wahrheit“ verwandelt. Unabdinglich dabei ist deren Verankerung an einem bestimmten Ort und in einer bestimmten Zeit.
Da können wir Schweizerinnen und Schweizer im Jahr 2015 nicht anders: unwiderstehlich drängen sich Marignano und 1515 in unser kollektives Gedächtnis.
Der kulturelle Wandel
Wenn es zutrifft, dass es „die Kultur ist, die jene Bedeutungen und Interpretationen prägt und ihnen eine Richtung gibt, mit deren Hilfe wir unseren Alltag bewältigen und auch Ereignissen Sinn verleihen […]“, dann wird das Ganze noch etwas komplizierter. Offensichtlich bedienen sich Charismatiker also gewissermassen kultureller Codes, einer Art neuer Sprache. Gelingt es mit dieser, Menschen zu beeinflussen, den Gang der Politik zu prägen und einen neuen, unverwechselbaren Interpretationsrahmen anzubieten, könnte es verständlicher werden, warum daraus ein Wandel im Denken breiter Massen ausgelöst werden kann.
Dieses Konzept wird einerseits getragen durch die unablässige Herausforderung des (politischen) Establishments und es muss andererseits ein neues narratives Modell anbieten. 2015 in der Schweiz: „Die da oben in Bern machen bekanntlich alles falsch!“ Dazu die wundersame Geschichte von den glorreichen Zeiten unserer siegreichen Väter erzählen, immer wieder. Unabhängig davon, ob es sie in dieser Fasson überhaupt je gab und ob sie eher Märchencharakter repräsentieren – wir lieben … Tell.
Zugegeben, dieses Modell ist nicht gerade neu und originell. Doch offensichtlich muss es clever ins 21. Jahrhundert eingepasst werden und schon lässt sich das erwähnte Gedankengebäude mit Inhalt füllen. Dieses gilt es dann nur noch zu verteidigen.
Eine Kultur in unserem Land also, die sich begründet in kriegerischem Verteidigungsgeschwurbel? Eigenartig. Nachdem wir Bunker und Festungen geschliffen oder umgenutzt haben, errichten wir ein neues Verteidigungsdispositiv gegen den allgegenwärtigen Feind – vor allem in der EU, jedoch gleichzeitig auch im gefährdeten Innern unseres Landes. Dies kann nicht im Ernst als erstrebenswerter kultureller Wandel einer aufgeklärten Bevölkerung bezeichnet werden.
Die Familie als Erlösungsgeschichte
Schliesslich kommt der Kernfamilie im oben geschilderten, imaginären kulturellen Raum „in dem der Alltag den Hintergrund und zugleich die Bühne bilden […], die zentrale Rolle zu“. Die andere, zu erzählende Geschichte muss demnach – begründet in den aktuellen bedrohlichen, unsicheren Zeiten – für eine Renaissance des einst trauten Familienbildes einstehen.
Neue Formen der Ehe? Bitte nicht! Berufstägige, bestens ausgebildete Frauen an den Schalthebeln politischer und wirtschaftlicher Macht? Frauen an den Herd! Kleinkinder fremdbetreut? Eine einzige Katastrophe!
Diese „Erlösungsgeschichte“ hör‘ ich wohl, doch mir fehlt diese Denkkategorie. Soll ich im 21. Jahrhundert tatsächlich Geschichten anhören, deren Erzähler die wünschenswerten Eigenschaften und Fähigkeiten von Personen im Sinne missionarischer Berufung kennen und demütig verbreiten? Dieser Erzählraster, in dem die Gegenwart als unvollkommen und mangelhaft, die sichere Zukunft dagegen verheissungsvoll dargestellt wird?
Umbruchszeiten
Perioden, die von Umbruch und Unsicherheit bestimmt sind, hatten – wie erwähnt - schon in der Vergangenheit jeweils gesteigerte, ideologische Aktivität als Begleitung. Heute, mitten in der digitalen „Reformation“ und der rasenden Globalisierung, erleben wir erneut einen solchen turbulenten Zeitabschnitt. Im Gegensatz zu früher gibt es in viel breiteren Schichten fundiertes Wissen, unverdächtige Gewissheiten, erwiesene Erkenntnisse und eine Vielzahl erprobter Orientierungshilfen. Die Auswahl ist jedem Einzelnen überlassen.
Literatur
Eva Illouz: „Die Errettung der modernen Seele“, 2011
Max Weber: „Wirtschaft und Gesellschaft“, 1922
Christoph Zollinger: „Mythen, Macht und Menschen durchschaut!“, 2014