Putins Druckpolitik und sein militärischer Aufmarsch in der Nähe der ukrainischen Grenze beherrschen die Schlagzeilen. Moskau und einige Stimmen im Westen werfen den USA und ihren Verbündeten übertriebenen «Alarmismus» vor. Ist das gerechtfertigt?
An dramatischen Warnungen und Prognosen zum Ukraine-Russland-Konflikt fehlt es in diesen Tagen nicht. Präsident Biden hatte schon für die vergangene Woche ein Datum für einen Einmarsch russischer Truppen in der Ukraine genannt. Diese Katastrophe ist zwar nicht eingetroffen, aber von Entwarnung kann keine Rede sein.
An der Frontlinie zwischen den von Russland gesteuerten «Volksrepubliken» Donezk und Luhansk und den ukrainischen Streitkräften häufen sich die militärischen Zwischenfälle. Die Zivilbevölkerung in diesen beiden Separatisten-Gebieten, die sich von der Ukraine losgesagt haben, wird über die Grenze nach Russland evakuiert, die Männer werden zum Kriegsdienst mobilisiert.
Bittere Gefühle in der Ukraine
Mehrere Botschaften in Kiew haben den Rückzug ihres Personals angekündigt – oder ihre Tätigkeit nach Lwiw (Lemberg) verlegt, das nahe an der polnischen Grenze liegt. Auch Russland liess verlauten, dass Botschaftsangehörige aus der ukrainischen Hauptstadt abgezogen würden. Einige westliche Fluggesellschaften stellen ab dieser Woche ihre Flüge nach Kiew ein.
In München haben am Wochenende an der traditionellen Sicherheitskonferenz prominente Politiker aus Europa und Amerika vor einer weiterhin brandaktuellen Kriegsgefahr an der ukrainischen Ostgrenze gewarnt. Russland wiederum hat angekündigt, dass seine nach Weissrussland entsandten Truppen auch nach Abschluss der Manöver weiterhin im Nachbarland und in der Nähe der ukrainischen Nordgrenze bleiben würden.
Unabhängig von all diesen wenig Vertrauen erweckenden Signalen werfen die Kreml-Propaganda und einige Putin-Claqueure im Westen den Nato-Verbündeten vor, die Kriegsgefahr durch übertriebenen Alarmismus zur Hysterie anzuheizen und so die Risiken eines militärischen Gewaltausbruchs zu verschärfen.
Kritische Stimmen zur Krisenrhetorik im Westen sind auch aus der Ukraine zu hören. Sie zielen nicht darauf ab, die russische Propaganda zu unterstützen. Vielmehr versuchen sie dem Publikum im Westen bewusst zu machen, dass man namentlich im Osten der Ukraine seit acht Jahren unter hybriden Kriegsbedingungen lebt und dass die meisten Ukrainer vom Westen generell eine energischere und grosszügigere Solidarisierung mit ihrem Schicksal erhoffen. Solchen bitter-illusionslosen Gefühlen hat am Wochenende in München der ukrainische Präsident Selenski emotionalen Ausdruck verliehen.
Erfahrungen aus der Krim-Annexion
Dennoch bleibt die Frage im Raum: Sind die Alarmglocken über einen möglichen grösseren Angriff russischer Militärkräfte gegen die Ukraine, die Führungsfiguren von Biden über Johnson bis zur deutschen Aussenministerin mit zum Schwingen gebracht haben, vernünftig und angebracht? Oder wird damit nur überreizter Nervosität Vorschub geleistet, was in der Regel kein guter Nährboden für überlegte Problemlösungen wäre.
Zur Antwort müsste man zuerst Gegenfragen an Putin richten: Warum lässt er riesige Armeen in der Nähe der ukrainischen Grenzen aufmarschieren und die Zivilbevölkerung der von ihm kontrollierten «Volksrepubliken» im Donbass evakuieren? Soll das etwa dazu dienen, die Welt über die russischen Absichten zu beruhigen? Und die Kreml-Propaganda über angeblich bevorstehende ukrainische Angriffsabsichten gegen die «Volksrepubliken» Donezk und Luhansk für bare Münze zu nehmen?
Neben solchen Fragen gibt es aber noch andere Erklärungen zum sogenannten Alarmismus von höchsten Stellen in Washington und andern Nato-Hauptstädten. Die «New York Times» hat unlängst darauf hingewiesen, dass die Alarmsirenen nicht zuletzt deshalb so lautstark eingeschaltet würden, weil man aus den Erfahrungen der russischen Krim-Annexion vor acht Jahren entsprechende Schlüsse gezogen habe. Damals hatte Putin mit seinem Husarenstreich gegen die völkerrechtlich zur Ukraine gehörende Halbinsel im Schwarzen Meer die Welt völlig überrascht. Die Ukraine und der Westen konnten keine Warnsignale aussenden und erst nach der vollzogenen Einverleibung mit Sanktionen reagieren.
Von einem ähnlichen Überraschungsmoment soll der Kremlchef bei der jetzigen Krise nicht profitieren können. Man bläst möglichst kräftig ins Alarmhorn in der Hoffnung, erstens den Drahtzieher in Moskau vielleicht doch noch vor hochriskanten Entscheidungen abzuschrecken. Und zweitens, um allen Nicht-Putinisten den Ernst der Lage einzuprägen.
Kann das von Nutzen sein? Wenn es nicht zum militärischen Angriff gegen die Ukraine kommt, wird man argumentieren können, dass der «Alarmismus» im Westen möglicherweise mitgeholfen hat, eine solche Katastrophe zu verhindern. Entscheidet sich Putin doch zu einer kriegerischen Lösung, wird schwerlich jemand Glauben finden für die Behauptung, dieses Desaster sei auf das Alarm-Geläute im Westen zurückzuführen.