Wahrscheinlich hätte es der seit 16 Jahren in Weissrussland regierende Lukaschenko gar nicht nötig gehabt, seine vierte Wahl zum Präsidenten durch manipulative Praktiken abzusichern. Welcher Gegner hätte ihm schon gefährlich werden können, nachdem es die ohnehin schwachen oppositionellen Kräfte nicht einmal fertig gebracht hatten, sich auf einen gemeinsamen Kandidaten zu einigen. Stattdessen schickten sie gleich neun Präsidentschaftsanwärter ins Rennen!
Ungeschickter hätte man den Kampf gegen den 56-jährigen Dauerregenten in Minsk kaum führen können. Diese mangelnde politische Reife – oder die überbordende Egozentrik – der oppositionellen Politiker erinnert an das ebenso fatale Verhalten des früheren ukrainischen Präsidenten Juschtschenko und dessen ehemaliger Bundesgenossin Julia Timoschenko, die es zu Beginn dieses Jahres nicht übers Herz brachten, ihre bittere Rivalität zu begraben, um so gemeinsam den Sieg des Moskau-freundlichen Janukowitsch zu verhindern.
Angesichts der oppositionellen Zersplitterung liess sich Lukaschenko – anders als bei früheren Wahlgängen – dazu herbei, seinen Gegnern im Wahlkampf eine gewisse Grosszügigkeit angedeihen zu lassen. Diese konnten in den staatlichen kontrollierten Medien und bei eigenen Wahlveranstaltungen überraschend frei ihre Meinungen verbreiten. Allerdings liess sich der Minsker Machthaber nicht davon abbringen, mit unsanftem Druck grössere Teile des Wahlvolks (unter anderen die Miliz, das Militär sowie Mitarbeiter von Staatsbetrieben) zur „vorzeitigen Stimmabgabe“ zu zwingen. Laut Berichten in westlichen Medien ist es den OSZE-Wahlbeobachtern nicht erlaubt, die vorzeitig gefüllten Wahlurnen zu überwachen.
Skrupellos, landesväterlich und bauernschlau
Man unterschätzt den ehemaligen Kolchos-Vorsitzenden Lukaschenko jedoch, wenn man seine lange Herrschaft in Weissrussland (10 Millionen Einwohner) allein mit seinen autokratischen und nicht selten brutalen Machtmethoden zu erklären versucht. In beträchtlichen Teilen vor allem der ländlichen Bevölkerung ist der oft gleichzeitig skrupellos, landesväterlich und bauernschlau agierende Präsident offenbar immer noch einigermassen beliebt. Manche Bürger sehen in ihm jene starke Hand, die bei allen materiellen Schwierigkeiten des Alltagslebens wenigstens für eine gewisse Ordnung sorgt – und dafür, dass die bescheidenen Gehälter und Renten pünktlich ausbezahlt werden. In dieser Hinsicht lässt sich Lukaschenko von ähnlichen Machtinstinkten leiten wie das russische „Alfa-Tier“ Wladimir Putin.
Wie beweglich und durchtrieben Lukaschenko gerade im Verhältnis zum übermächtigen Nachbarn Russland auf verschiedenen Klaviaturen spielen kann, hat er im Laufe der vergangenen Monate vordemonstriert. Noch im Sommer und Herbst schienen die Beziehungen zwischen Minsk und Moskau praktisch hoffnungslos zerrüttet.
Dass das vor einem Jahrzehnt pompös verkündete Projekt einer engen russisch-weissrussischen Union schon seit langem tot ist, weiss jeder, auch wenn das nie offiziell bestätigt wurde. Seit Jahren flammt zwischen den beiden Regierungen immer wieder Streit um die Verrechnung der russischen Erdöl- und Erdgaslieferungen nach Weissrussland auf. Für Minsk waren die gemessen am Weltmarktpreis verbilligten Lieferungen eine der wichtigsten Einnahmequellen, denn die im Lande veredelten Erdölprodukte konnten mit lukrativen Gewinnen weiterverkauft werden.
Konfrontation und Kooperation mit dem Kreml
Moskau beharrt mit wachsendem Nachdruck auf einer vollen Anpassung seiner Erdöl- und Erdgasprodukte an die Weltmarktpreise – oder verlangt als Gegenleistung für weitere Subventionen einen erhöhten russischen Anteil am weissrussischen Transitnetz für diese Energieträger in Richtung Europa. Im Sommer und im Herbst dieses Jahres eskalierten die Reibereien um diese und andere ungelöste Fragen zwischen Lukaschenko und der Kremlführung in einen offenen Propagandakrieg. Über das von ihnen kontrollierte Fernsehen liessen beide Seiten giftige Anschuldigungen an die Adresse der benachbarten Regenten verbreiten.
Was besonders den Zorn der Moskauer Machthaber erregt zu haben scheint, ist der Umstand, dass Lukaschenko trotz angeblicher Zusagen die „Unabhängigkeit“ der von Georgien abtrünnigen – und von Russland protegierten – Provinzen Abchasien und Südossetien bisher nicht anerkannt hat. Ausserdem hatte Lukaschenko dem von Präsident Medwedew unlängst kurzerhand abgesetzten Moskauer Bürgermeister Luschkow seine Sympathien bekundet.
Wer indessen geglaubt hatte, mit diesem dröhnenden Schlagabtausch habe sich Lukaschenko auch im Verhältnis zum russischen „Brudervolk“ in die Isolation manövriert und damit seine eigene Machtbasis gefährlich geschwächt, scheint sich getäuscht zu haben. Wenige Tage vor der Präsidentschaftswahl in Weissrussland tauchte Lukaschenko für ein gemeinsames russisch-weissrussisches-kasachisches Treffen überraschend in Moskau auf, lächelte zusammen mit Präsident Medwedew herzhaft in die Kameras und griff freundschaftlich nach dem Arm seines russischen Gastgebers. Laut offizieller Darstellung hat man sich darauf geeinigt, dass Russland weiterhin verbilligtes Erdöl nach Weissrussland liefern wird, dafür aber neu die Zolleinnahmen kassiert, die Minsk bisher für die Ausfuhr dieses Öls oder der daraus hergestellten petrochemischen Produkte einforderte.
Die Risiken autokratischer Regime
Ob dieser neue Deal und die damit zelebrierte Versöhnung zwischen Moskau und Minsk lange halten wird, ist ungewiss. Politisch aber haben sich diese turbulenten Manöver für Lukaschenko vorerst gelohnt: Innenpolitisch steht er als furchtloser Kämpfer da, der nicht bereit ist, gegenüber dem übermächtigen Nachbarn Russland die Rolle des braven Vasallen zu spielen. Gleichzeitig hat Lukaschenko mit seiner unerwarteten Einigung im Ölstreit mit Moskau demonstriert, dass er klug genug ist, es in dieser für die weissrussische Wirtschaft lebenswichtigen Frage nicht auf einen definitiven Bruch ankommen zu lassen. Ausserdem hat der Machthaber in Minsk seine Distanzierungsübungen gegenüber Moskau zur Neubelebung seiner zuvor praktisch eingefrorenen Kontakte mit der EU genutzt. Daneben ist die Kooperation mit dem Erdöl-Exportland Venezuela, dessen Machthaber Chávez eine Art Seelenfreundschaft mit Lukaschenko verbindet, sowie mit dem Wirtschaftsriesen China erweitert worden.
Autokratische Regime sind im Vergleich mit funktionierenden Demokratien stets mit wesentlich höheren Risiken konfrontiert, dass sie durch eine Protestbewegung plötzlich in den Grundfesten erschüttert und hinweggefegt werden. So geschehen beispielsweise in der Ukraine vor sechs Jahren bei der so genannten „orangen Revolution“ gegen eine krud manipulierte Präsidentschaftswahl. Ausgeschlossen ist es deshalb keineswegs, dass auch in Weissrussland ein ähnlicher Umsturz in Gang kommt. Trotz der grossen Protestdemonstration in Minsk am Sonntagabend spricht indessen nicht viel dafür, dass die letzten Tage von Lukaschenkos autokratischer Herrschaft schon angebrochen sein könnten.