Der belarussische Diktator will mit seinem zynischen Flüchtlingspoker die EU destabilisieren. Doch es geht um mehr.
Die belarussischen Wahlen am 9. August 2020 hatte Alexander Lukaschenko, «der letzte Diktator Europas», mit offiziell 80,8 Prozent der Stimmen gewonnen. Gegenkandidaten waren vor der Wahl festgenommen worden. Oppositionskandidatin Swjatlana Zichanouskaja, die in Umfragen weit vorn gelegen hatte, erzielte offiziell nur 10,09 Prozent der Stimmen. Sie fürchtete um ihr Leben und flüchtete nach der Wahl nach Litauen.
Unabhängige Beobachter, die Opposition und die internationale Gemeinschaft bezeichneten die Wahlen als «eindeutig gefälscht». Zu Wahlen in der früheren Sowjetunion habe es nur einen Unterschied gegeben, sagte ein westlicher Diplomat. «In der Sowjetunion gewannen die Kandidaten jeweils mit 99,7 Prozent; in Belarus begnügte sich Lukaschenko mit 80 Prozent.»
Im Anschluss an die Wahlen kam es zu Massenprotesten. Tausende Menschen wurden festgenommen, teils misshandelt. Amnesty International sprach von «systematischer Folter». Die Polizei schoss mit scharfer Munition auf die Manifestanten.
Einzig Putin, Xi Jinping, Asad, Erdogan und Maduro gratulierten Lukaschenko. Die EU sprach von eklatantem Wahlbetrug und anerkennt ihn nicht mehr als rechtmässigen Präsidenten. Als er dann im Mai dieses Jahres den Dissidenten und Regimekritiker Roman Protasewitsch, der in einer Ryanair-Maschine sass, vom Himmel holte und verhaften liess, war das Fass voll.
In der Zwischenzeit hat Brüssel zahlreiche Sanktionen gegen Belarus erlassen. 166 Namen und 15 Unternehmen stehen auf der schwarzen Liste. Jetzt, nach Lukaschenkos «Poker mit den Flüchtlingen» sollen weitere Strafmassnahmen folgen. Es geht um Handelsverbote, Einreiseverbote und Kontosperren.
Sie geben oft ihr letztes Geld für den Flug und für die Visa aus, die ihnen Lukaschenko generös – gegen viel Geld – ausstellt.
Schon seit Wochen hat Lukaschenko eine Flüchtlingsroute durch sein Land eröffnet. Fluchtwillige werden im Nahen Osten, vor allem in Syrien und im Nordirak, aber auch in der Türkei angeheuert und dann per Flugzeug nach Belarus geschleust. Sie geben oft ihr letztes Geld für den Flug und für die Visa aus, die ihnen Lukaschenko generös – gegen viel Geld – ausstellt. In Minsk werden Flüchtlinge dann an die EU-Aussengrenze gebracht. Dort sollen sie versuchen, nach Polen, Litauen oder Lettland zu gelangen. Lukaschenko weiss, dass die EU äusserst aufgeregt auf neue Flüchtlingsströme reagiert.
Die belarussischen Staatsmedien berichten ausführlich über das Flüchtlingsdrama. Sie zeigen frierende und hungernde Menschen, die um ein Feuer sitzen und sich in eiskalten Nächten etwas wärmen. Sie zeigen auch belarussische Helfer, die den Leidenden ein wenig Nahrung bringen. Und sie zeigen ein kleines Mädchen, das ein Transparent zeigt, auf dem steht «I want go school». Ein kleiner Junge hat das Wort «cold» auf seine Stirn geschrieben. Betont wird, dass die Temperaturen in den Nächten jetzt noch weiter unter den Gefrierpunkt sinken werden und dass bald der erste Schnee fällt. Die Botschaft ist klar: Wir Belarussen helfen, so gut wir können. Die «barbarische» EU jedoch lässt die Gestrandeten im Stich. Je elender das Elend der Flüchtlinge wird, desto mehr wird Lukaschenko den Westen dafür verantwortlich machen.
Lukaschenko erpresst die EU, damit man ihn, den Ausgestossenen, wieder ernst nimmt, damit man wieder mit ihm spricht.
Sicher will sich der belarussische Präsident so für seine Ächtung rächen. Er will die stets uneinige EU in Bedrängnis versetzen. Das ist das eine.
Doch es kommt noch etwas Entscheidendes dazu. Und Wladimir Putin war es vergangene Woche, der darauf aufmerksam gemacht hat.
In einem Telefongespräch mit Angela Merkel forderte Putin die EU auf, den Dialog mit Belarus, also mit Lukaschenko, wieder aufzunehmen, um das Flüchtlingsproblem zu lösen.
Auch darum geht es. Lukaschenko erpresst die EU, damit man ihn, den Ausgestossenen, wieder ernst nimmt, damit man wieder mit ihm spricht.
Würde sich die EU – aus humanitären Gründen – zu einem Canossagang entschliessen und mit Lukaschenko verhandeln, würde sie jede moralische Glaubwürdigkeit verlieren.
Man stelle sich vor: EU-Abgeordnete würden in Minsk mit Lukaschenko im Präsidentenpalast zusammentreffen. Die belarussischen Staatsmedien würden ausführlich mit Bildreportagen darüber berichten. Lukaschenko würde sich im Scheinwerferlicht der Kameras sonnen, er wäre wieder wer. Er, der geächtete Diktator, hätte das Machtpoker mit der EU gewonnen. Er würde der Welt vorführen, dass er die EU in die Knie gezwungen hat.
Würde die EU einen Dialog mit ihm beginnen, würde das eine Wiederanerkennung Lukaschenkos bedeuten. Und letztlich: eine Anerkennung des gefälschten Wahlergebnisses. Und eine Anerkennung der diktatorischen Praktiken des Regimes.
Würde sich die EU aber – aus humanitären Gründen – zu einem Canossagang entschliessen und mit Lukaschenko verhandeln, würde sie jede moralische Glaubwürdigkeit verlieren.
Spricht sie jedoch nicht mit ihm, nimmt das Flüchtlingsdrama an der belarussisch-polnischen Grenze seinen Fortgang. Nimmt sie aber die 3’000 Flüchtlinge auf, werden bald 3’000 andere an der Grenze stehen. Die EU ist nicht in einer beneidenswerten Lage.
Es ist zu befürchten, dass die Migranten noch lange an der Grenze ausharren müssen – unter unmenschlichen Bedingungen, bei nächtlichen Minustemperaturen. Lukaschenko wird ihr Schicksal mit seinem Propaganda-Apparat auszunützen wissen. Und er macht deutlich: Ich, und nur ich, bin der Regisseur des ganzen Dramas.