Eine Demonstration verursachte am letzten Dienstag Abend einen Verkehrskollaps im Zentrum von Boston. Eine Gruppe jüdischer Jugendlicher zog durch die Stadt, um gegen die Migrationspolitik der Regierung Trump zu protestieren. Sie hatten sich versammelt beim New England Holocaust Memorial und trugen Schilder mit Aufschriften wie „Niemals wieder! Schliesst die Lager“. Der Slogan bezog sich auf die US-Auffanglager für Flüchtlinge, die in der Auffassung der Demonstrantinnen und Demonstranten an den Holocaust und die Konzentrationslager der deutschen Nationalsozialisten erinnern.
Flüchtlingslager als Konzentrationslager?
Das US-Ministerium für Innere Sicherheit (Department of Homeland Security) hatte in der vergangenen Woche die Zustände in mehreren Flüchtlingslagern an der mexikanischen Grenze als unhaltbar beschrieben: Überbelegte Räume, mangelnde Hygiene, ungenügende medizinische Versorgung und schlechte Ernährung hätten zu einer „akuten und sich verschlimmernden Krise“ geführt.
Der Bericht der Grenzpolizei und des Department of Homeland Security hatten Proteste im ganzen Land zur Folge. Radikale Trump-Gegner nutzten die Gelegenheit, die Regierung Trump erneut als „faschistisch“ anzugreifen. Das Schlagwort „Holocaust“ wird zwar meist nicht offen ausgesprochen, das Adjektiv „faschistisch“ hingegen ist bei der US-Linken kein Tabubruch mehr, wenn es sich um Donald Trump handelt. Der Faschismus-Vorwurf überschwemmt in Form viraler Propaganda die USA.
Die junge, demokratische Kongressabgeordnete Alexandria Ocasio-Cortez nannte die Flüchtlingslager auf Twitter „Konzentrationslager“. Ocasio-Cortez hat rund vier Millionen Follower. Die Debatte schlägt seither hohe Wellen.
Das alles ist nicht neu. Auf einschlägigen Internet-Foren im linken Spektrum der demokratischen Partei ist es seit langem gang und gäbe, in der Politik der Regierung Trump viele Anzeichen von „Faschismus“ zu erkennen.
«Das ist Faschismus»
Die Website truthout.org, eine viel besuchte Plattform der US-Linken, titelt am 3. Juli, Donald Trumps Waffenparade am Independence Day sei „ein grelles Zeichen von Faschismus“ (a Glaring Sign of Fascism).
Autor des Artikels ist William Rivers Pitt, der für seine stilistische Virtuosität bekannte Chef-Kolumnist der Webseite. Er stellt an den Anfang seines Artikes eine Checkliste mit folgenden Fragen: Ist das Wahlrecht ausgehöhlt (dismantled)? Kontrolliert eine einzige Partei die Regierung und auch das Oberste Gericht? Werden Konzentrationslager betrieben? Werden diejenigen bedroht, die sich dagegen aussprechen? Sind viele Mainstream-Medien dabei wichtige Komplizen?
Für Rivers Pitt sind all diese Fragen rein rhetorisch, denn er ist überzeugt, dass sie mit Ja zu beantworten sind. Und schliesslich fragt er: „What are we forgetting? Oh, right, a gaudy display of military might.“ Eine protzige Schau militärischer Macht.
Das Fazit des Autors: „This is fascism.“ Künftige Generationen von Geschichtsstudenten, so meint Rivers Pitt, werden vielleicht im Rückblick fragen, wie das amerikanische Volk so blind sein konnte, dies nicht zu sehen.
Militärparade in Frankreich – auch Faschismus?
Man kann über dieses Narrativ nur den Kopf schütteln. Rivers Pitt hat grosse Verdienste erworben als ein Publizist, der die Hintergründe des Irak-Krieges aufdeckte. In der Beurteilung der aktuellen politischen Lage liegt er völlig daneben.
Weder ist in den USA die Gewaltentrennung aufgehoben, weil unter der Regierung Trump ein konservativer Richter in den Obersten Gerichtshof gelangte, noch ist das Wahlrecht in den USA von „russischen Hackern“ ausser Kraft gesetzt. Die sogenannte Russia Collusion hat sich als Luftballon erwiesen. Momentan gehen verschiedene US-Staatsanwälte dem Verdacht nach, die „Beweise“, mit denen CIA und FBI noch während des Wahlkampfs 2016 die Untersuchungen zu Trumps Russland-Verstrickung losgetreten hatten, seien Fake.
Und was Trumps Independence-Day-Theater angeht: Wenn eine „Schau militärischer Macht“ ein Zeichen von Faschismus ist, dann wäre die Militärparade auf den Champs Elysees, der Donald Trump am 14. Juli 2017 zusammen mit Präsident Macron beiwohnte, der Beweis, dass auch in Frankreich der Faschismus ausgebrochen ist.
Durchsichtige Manipulation
Die Faschismus-Keule ist eine altbekannte Propagandawaffe. Es ist bequem und vermeintlich effizient, den politischen Gegner als Faschisten zu beschimpfen und innerhalb dieser Logik einen „Widerstandskampf“ zu proklamieren. Mühsamer ist es, sich mit politischen Sachfragen auseinander zu setzen, zum Beispiel mit den Fakten an der mexikanischen Grenze.
Die Zahl der Migranten hat deutlich zugenommen. In den acht Monaten zwischen Oktober 2018 und Mai 2019 wurden nach Angaben der US-Grenzpolizei mehr als 676’000 Menschen aufgegriffen. Das sind etwa doppelt so viele wie im gleichen Zeitraum ein Jahr zuvor. Zuletzt wurden monatlich mehr als 100’000 illegale Grenzübertritte registriert.
Dass Auffangeinrichtungen und Grenzwächter damit personell und infrastrukturell überfordert sind, ist verständlich und seit langem bekannt. In diesem Zusammenhang von „Konzentrationslagern“ zu reden und düstere Anspielungen auf Auschwitz zu lancieren, ist eine allzu durchsichtige politische Manipulation.
Die amerikanische Historikerin Edna Friedberg, selbst Leiterin eines Holocaust-Museums, beobachtet mit Besorgnis einen fatalen Trend: In den USA scheine derzeit alles voller Nazis zu sein, stellt sie fest, nämlich „Leute, die von ihren politischen Gegnern als Nazi, Hitler, Göring oder Gestapo betitelt werden“.
Fahrlässige Holocaust-Vergleiche
Der leichtfertige Umgang mit der Vergangenheit führe zu Realitätsblindheit warnt Friedberg: „Mit den fahrlässigen Holocaust-Vergleichen kann man den Gegner vielleicht dämonisieren, erniedrigen und einschüchtern. Aber das wird uns alle teuer zu stehen kommen, denn es lenkt ab von den wirklichen Problemen unserer Gesellsschaft, es blockiert jeden produktiven und sorgfältigen Diskurs.“
Die Shoa und die Konzentrationslager sind erprobte Symbolbilder für propagandistische Manipulation. In den Balkankriegen erhielten US-Werbeagenturen mehr als 150 PR-Aufträge, die fast ausschliesslich den Zweck hatten, die Serben als Täter, hingegen Kroaten und muslimische Bosniaken als Opfer darzustellen. (Mira Beham u. Jörg Becker: Operation Balkan. Werbung für Krieg und Tod. 2008.)
Die Werbagentur Ruder Finn erhielt 1993 für ein derartiges Engagement eine Medaille von der Public Relations Society of America. Die Agentur war wesentlich an Fälschungen beteiligt, die serbische Flüchtlingslager als „Konzentrationslager“ darstellten. Einer der Manager von Ruder Finn, James Harff, sagte gegenüber einem holländischen Journalisten, er sei besonders stolz darauf, dass es ihm gelungen sei, die jüdischen Kreise in den USA zu gewinnen:
„Zwischen dem 2. und dem 5. August 1992 (war es), als New York Newsday die Sache mit den Lagern veröffentlichte. Da haben wir im Flug zugegriffen und drei jüdische Organisationen überlistet: die B’nai B’rith Anti-Defamation-League, das American Jewish Committee und den America Jewish Congress und so weiter. Wir haben ihnen vorgeschlagen, einen Beitrag in der New York Times zu veröffentlichen und eine Protestkundgebung vor dem Sitz der Vereinten Nationen zu organisieren. Das hat hervorragend funktioniert. Die jüdischen Organisationen auf Seiten der Bosnier ins Spiel zu bringen, war ein grossartiger Bluff. In der öffentlichen Meinung konnten wir auf einen Schlag die Serben mit den Nazis gleichsetzen.“ (Peter Glotz: Die Benachrichtigung der Deutschen. Aktuelle Fernsehberichterstattung zwischen Quoten und Zeitzwang. 1998. S.33/34)
Totschlag-Begriffe funktionieren nicht immer
James Harff berichtete, seine Kollegen und er hätten eine Flasche Champagner aufgemacht, als die NATO Belgrad bombardierte. Doch das Rezept, den politischen Gegner mit dem Faschismus-Knüppel mundtot zu machen, funktioniert nicht immer wie gewünscht. Der Schuss kann nach hinten losgehen. In der Debatte um die angeblichen „Konzentrationslager“ an der mexikanischen Grenze hat es empörte Reaktionen gegeben. Jüdische Organisationen und Auschwitz-Überlebende haben sich betroffen gezeigt über die billige Instrumentalisierung der historischen Gräuel von Dachau und Ausschwitz.
„Tun Sie uns allen den Gefallen, fünf Minuten für das Studium der jüngeren Geschichte zu verwenden“, twitterte die republikanische Kongressabgeordnete Liz Cheney an die Adresse von Ocasio-Cortez: „Sechs Millionen Juden wurden im Holocaust vernichtet. Sie entwürdigen deren Andenken und bringen sich selbst in Unehre.“
Trump hat ein Gesetz unterzeichnet, das 4,6 Milliarden Dollar bereitstellt, um die humanitäre Situation an der mexikanischen Grenze zu verbessern. Mit dieser Massnahme hat er politisch wieder die Nase vorn. Er könnte derzeit profitieren von den Fehlern der Linken, die ihn als Faschisten verunglimpfen und damit die Wut seiner Anhängerschaft im ganzen Land provozieren.
Trumps Militärparade – wem imponiert das?
Stattdessen lässt er für den Nationalfeiertag Kampfpanzer nach Washington transportieren und gibt den militärischen Bodybuilder, indem er F-35 Stealth-Fighter-Jets über die Köpfe der Leute donnern lässt, die an diesem Tag traditionell Friedlichkeit am Grillsteak zelebrieren wollen. Die Exhibition von Panzern und Kampfjets mag den Waffenliebhabern unter seinen Anhängern gefallen, der „Second Amendment-Klientel“. Vielleicht auch den Menschen, die sich machtlos fühlen und einen starken Mann suchen, der ihnen eine psychologische Kompensation für wirkliche oder vermeintliche Verletzungen und Demütigungen bietet. Damit bedient Trump aber nur denjenigen Teil seiner Wählerinnen und Wähler, auf den er ohnehin zählen kann. Er braucht aber bei den nächsten Wahlen auch Stimmen aus anderen Wählersegmenten. Dass diese sich durch Militärparaden beeindrucken lassen, darf man bezweifeln.
Die Mehrheit der Bevölkerung der USA hat laut eindeutigen Umfragen die Nase voll von den Kriegen, die ihre Regierungen seit 9/11 führen. Und mit hoher Wahrscheinlichkeit will eine Mehrheit keinen neuen Krieg gegen den Iran. Man darf davon ausgehen, dass die meisten US-Amerikanerinnen und Amerikaner keine Waffenschau goutieren. Die Leute wollen keine Bilder von Kampfpanzern als Vorbereitung auf den wirklichen Krieg. Vielmehr wollen sie Sicherheit in der Politik ihres Landes, Stabilität im Job und in ihrem Leben. Ein Teil von ihnen hat sogar Trump gewählt, weil er – im Gegensatz zu Hillary Clinton – versprochen hatte, die USA würden von Kriegen in andern Kontinenten die Finger lassen.
Trump wäre eben nicht Trump, würde er einmal ein paar Tage ruhig und zurückhaltend bleiben. Der Mann ist, was seine politische Manövrierfähigkeit angeht, „a bull in a china shop“. Er regiert in einer Wolke von Unvorhersehbarkeit, aber vielleicht ist dies seine politische Strategie: Immer gut für Überraschungen, immer im Fokus der Medien, immer dreht sich alles um Trump.