Mit ihren Romanen über Georgien und Tschetschenien eroberte Nino Haratischwili den Buchmarkt: Heute gehört sie zu den wichtigsten Stimmen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Dass sie auch als Dramatikerin und Regisseurin Furore macht, dürfte vielen ihrer Fans weniger bekannt sein.
Am Deutschen Theater in Berlin feierte am Wochenende ihr Stück «Penthesilea – ein Requiem» seine Uraufführung. Nino Haratischwili hat den antiken Stoff umgeschrieben und selber inszeniert: eine Parabel über den Irrsinn des Krieges.
Wenn Gefühle die Kriegstreiber heimsuchen
Am 25. Februar 2022 erschien Nino Haratischwilis langerwarteter Roman «Das mangelnde Licht». Darin schildert die georgische Autorin – am Beispiel von vier Freundinnen in Tiflis Anfang der Neunzigerjahre – das Erwachsenwerden in einem Land, das in kriegerische Auseinandersetzungen mit Russland verwickelt ist.
Genau einen Tag vor dieser Publikation war die Ukraine überfallen worden, und es schien wie ein tragischer PR-Gag, dass Nino Haratischwilis Werk nun überall als «das Buch zur Stunde» gefeiert wurde.
Immer und immer wieder musste Nino Haratischwili in der Folge auf den Bühnen im In-und Ausland zur aktuellen Situation Stellung beziehen; es ging dabei nicht nur um eine politische Einschätzung; sie erzählte auch von «alten Wunden», die nun wieder aufgerissen worden waren, «der letzte Krieg mit Russland war erst 2008, und ich erinnere mich noch lebhaft an ihn».
Kindheit im Kaukasus
Nino Haratischwili kennt dieses belastende Lebensgefühl, dem die Menschen in der Ukraine seit dem 24.02.2022 ausgesetzt sind: Auch sie erlebte eine Kindheit im Schatten von Gewalt und Krieg. Und einen Alltag, in dem der Zugang zu Strom, Wasser und Nahrungsmitteln alles andere als selbstverständlich war. 1993 ging sie mit ihrer Mutter nach Deutschland. Nach zwei Jahren – mittlerweile war sie zwölf – trieb sie das Heimweh wieder nach Tiflis zurück; dort fand sie Kraft und Bestimmung in lokalen Theatergruppen und emigrierte dann nach dem Abitur ein zweites Mal nach Deutschland; jetzt war ihr Ziel Hamburg, wo sie sich zur Regisseurin ausbilden liess. Und seither pendelt sie künstlerisch zwischen ihren beiden Leidenschaften – dem Inszenieren und dem Schreiben. Und geografisch zwischen Berlin und Tiflis.
Krieg und Gewalt
Das Thema «Krieg und Gewalt» zieht sich thematisch wie ein roter Faden durch das literarisches Schaffen von Nino Haratischwili: Mit dem Roman «Das achte Leben», in dem sie hundert Jahre georgische Geschichte aufgearbeitet hatte, gelang ihr 2014 der internationale Durchbruch; in «Die Katze und der General» spürte sie – am Beispiel von Tschetschenien – den Abgründen nach, die sich zwischen den Trümmern des zerfallenden Sowjetreichs aufgetan hatten. Und es ist zweifellos das ganz grosse Verdienst der Georgierin, dass sie es als Schriftstellerin geschafft hat, was Dutzenden von Geschichtsbüchern und Nachrichtensendungen nie gelungen ist: uns Menschen in Westeuropa diese blinden Flecken auf der Landkarte sichtbar und vor allem emotional spürbar zu machen. Dank ihr bekam der krisengeschüttelte Kaukasus eine Stimme und für tausende von Leserinnen und Lesern auf der ganzen Welt endlich ein Gesicht.
Die Uraufführung
Jetzt – zwei Jahre nach der Buchpremiere von «Das mangelnde Licht» – kommt wieder ein Werk von Nino Haratischwili an die Öffentlichkeit: ihr Theaterstück «Penthesilea – ein Requiem». Und wieder fällt der Anlass mit dem Einmarsch in der Ukraine zusammen: Die Uraufführung fand am 23. Februar statt, also genau einen Tag vor dem zweiten Jahrestag dieses unmenschlichen Krieges inmitten Europas.
Und wieder steht im Mittelpunkt ihres Werkes die Gewalt und der Kampf um den Sieg. Aber anders als in ihrer Prosa geht es hier eben genau nicht um den Alltag von ganz normalen Bürgerinnen und Bürgern, sondern alles dreht sich um die psychische und physische Verfassung von Heldinnen und Helden.
Die Regeln der Amazonen
Da ist zum Beispiel Penthesilea, die Königin der Amazonen, die auf der Seite der Trojaner kämpfen. Ihre Liebe gilt allein ihren zwölf stolzen Reiterinnen; diese wiederum sind ihr treu ergeben. Sie kennen die Regeln, dass sie sich vom anderen Geschlecht fernhalten. Einzig, um den Nachwuchs zu sichern, nehmen sie zuweilen einen Mann gefangen. Nach dem Zeugungsakt hat aber dann bereits seine Stunde geschlagen, genauso wie den männlichen Neugeborenen. In der Welt der Amazonen haben nur Töchter ein Überlebensrecht.
Für die Besetzung dieser Kriegerinnen hat Nino Haratischwili Schauspielerinnen aus Georgien nach Berlin geholt, um ihre Distanz – auch die kulturelle – zu den griechischen Soldaten deutlich zu machen. Ihre Textpassagen werden per Videoeinblendungen simultan ins Deutsche übersetzt.
Eine doppelte Penthesilea
Penthesilea im schwarzen Kleid kauert schon auf der Bühne, wenn das Publikum den Theatersaal betritt, umhüllt von einem riesigen weissen Watteteppich. Bei Beginn der Aufführung richtet sie sich zögerlich auf, ihre langen dunklen Haare umhüllen das bleiche Gesicht. Und mit rauher, tragender Stimme wendet sie sich direkt ans Publikum: «Sie werden gleich hier sein, dann soll ich mich in Hass üben, den ich doch längst verlernt habe.»
Schnell wird klar, dass es bei Nino Haratischwili die Amazonen-Königin doppelt gibt: Almut Zilcher verkörpert eindrücklich den allwissenden und zeitlosen Geist von Penthesilea, jene, die das Ende der Geschichte kennt und aus dieser Perspektive heraus immer wieder in die Handlung eingreift als unsichtbare, abgeklärte Kommentatorin. Zuweilen taucht sie auch hinter der noch lebenden, emotional aufgewühlten Doppelgängerin auf, die – anders als sie – nur georgisch spricht.
Achill im Visier
Die junge Penthesilea – gespielt von Eka Nizharadze – hat es mit ihrem Schwert auf den unschlagbaren Helden Achill abgesehen. Aber dann geschieht das Schlimmste, was einer Amazone passieren kann: Im Nahkampf verliebt sie sich in den schönen Griechen und fühlt glühendes Begehren. Sie weiss: Liebe zu einem Mann kommt einem Hochverrat am eigenen Volk gleich; die Tragödie ist programmiert. Auch Achill (Manuel Harder) erlebt eine «amour fou» und gerät ins Stolpern: Denn eigentlich sollte er als Feldherr mit der mutigen Königin nun kurzen Prozess machen.
Dieses Hin-und Hergerissen sein zwischen Zuwarten und Losschlagen lässt die Schauspielerinnen und Schauspieler zur Hochform auflaufen und wird auch szenisch und akustisch raffiniert umgesetzt: mit akrobatischen und tänzerischen Einlagen, Lichtwechseln, Weckergerassel und den eindringlichen Appellen der Verbündeten von Penthesilea und Achill, endlich den Verstand einzuschalten. Thersites, der Waffenträger des Griechen (Jens Koch), durchschaut die Schwäche seines Herrn und drängt auf Tempo: «Eure Heldentaten, eure Muskeln entschuldigen nicht alles. Und die Geilheit eures Schwanzes auch nicht. Dieses Schlachten muss ein Ende haben.» Und ein Ende gibt es nur, wenn entweder die Amazonen oder die Griechen ihr Oberhaupt im Zweikampf verlieren.
Erschreckende Aktualität
Thersites bezahlt diese Majestätsbeleidigung mit dem Tod. Aber bevor er ertränkt wird, setzt er nochmals zu einem letzten Warnruf an die Adresse der Kriegstreiber an: «Tausende Vergewaltigungen, deren Zeuge ich wurde, ihr werdet sie mit Euren Schlägen nicht tilgen. Tausende Verbrennungen, tausende abgezogene Fingernägel, die Ihr angeordnet habt. Tausende tote Kinder, mit deren Leibern die trojanischen Strassen gepflastert sind, ich habe sie gezählt. Ich habe sie alle gezählt.»
Bei dieser Schlüsselszene lief den Zuschauerinnen und Zuschauer ein kalter Schauer über den Rücken. Man fühlte sich unweigerlich an die Realität erinnert und staunte, wie es Nino Haratischwili schafft, mit ihren eigenen Texten dem antiken Stoff Leben einzuhauchen. Und folgerichtig ist auch ihr Entscheid, dem Drama ein neues Ende anzudichten.
Doppelmord als Lösung
In der griechischen Mythologie ersticht Achill Penthesilea und verliebt sich erst, als er der Sterbenden den Helm abzieht. Bei Heinrich von Kleist siegt zwar Penthesilea, aber sie wird wahnsinnig, weil sie zu spät realisiert hat, dass Achill sie aus Liebe verschont hat.
Nino Haratischwili hat sich auf einen Doppelmord, also auf ein «Unentschieden» festgelegt: Am Schluss einer blutigen Szene – in der beide mit Liebe und Hass ringen – liegen Penthesilea und Achill überwältigt auf der Bühne. Die letzten Worte hat Penthesileas unsterbliche Doppelgängerin: «Die Toten werden zu Schatten. Und wir nehmen ihre Plätze ein.»
Drei Königinnen aus der Antike
«Penthesilea» ist Teil der «Königinnen-Trilogie» von Nino Haratischwili; «Phädra», das erste Stück, hat die Georgierin am Royal District Theater in Tiflis uraufgeführt; «Penthesilea» wird momentan am Deutschen Theater in Berlin gezeigt. Und 2025 folgt dann noch die Uraufführung von «Klytämnestra».
Nächste Aufführungen von «Penthesilea» am Deutschen Theater Berlin
- Mi., 28. Februar 2024
- Do., 07. März 2024
- Fr., 08. März 2024
- Do., 28. März 2024
- Fr., 29. März 2024