Es waren die 99. Festspiele an der Salzach. 41 Tage haben sie gedauert, mit 199 Aufführungen an 16 Spielstätten. 270’584 Karten wurden verkauft. Die Platzauslastung betrug stolze 97 Prozent, wie im letzten Jahr. Die Ticketeinnahmen belaufen sich auf mehr als 31 Millionen € und liegen damit drei Prozent über dem Vorjahr.
Zahlen, Zahlen, Zahlen … dazu gehören Namen, Namen, Namen …
Wer im Musik- und Theaterbereich dazu gehört, gehört auch zu Salzburg.
Inzwischen sind sie alle abgereist, das Publikum und die Stars. An Anna Netrebko zum Beispiel erinnern nur noch die gleichnamigen Trüffelnudeln auf der Speisekarte des «Triangel», gleich gegenüber dem Festspielhaus. «Jedermann»-Hauptdarsteller Tobias Moretti ist Pate für eine Fischsuppe, während man zum Dessert Placido Domingo bestellen kann und Marillen-Palatschinken serviert bekommt.
Ein kleiner Blick zurück. Ganz ohne Anspruch auf Vollständigkeit.
Kurz vor dem grossen Rummel, aber bereits im Rahmen der Festspiele, gibt es seit sieben Jahren die «Ouverture Spirituelle», die Alexander Pereira seinerzeit ins Leben rief. Fünf Tage mit geistlicher Musik und Alter Musik. Dieses Jahr unter anderem mit den «Lagrime di San Pietro» von Orlando di Lasso, dem zu seinen Lebzeiten berühmtesten Komponisten der Renaissance. Jetzt wurde er vom grandiosen «Los Angeles Master Chorale» in der Kollegienkirche aufgeführt und von Peter Sellars szenisch adaptiert. Klänge, die vom ersten Moment an unter die Haut gehen und die aus anderen Sphären zu kommen scheinen. Oder anderntags im Mozarteum: geistliche Gesänge aus neuer Zeit von Dmitri Schostakowitsch, Alfred Schnittke und Arvö Pärt, der höchstpersönlich auf die Bühne trat und sich tief bewegt für die Begeisterung des Publikums bedankte. Am nächsten Tag: John Dowland, der Popstar der Renaissance, der den Soundtrack zum Zeitalter der Melancholie in England komponierte und dessen Lauten-Melodien das Publikum bis heute faszinieren.
So wie die Siebte Sinfonie von Dmitri Schostakowitsch, die «Leningrader». Teodor Currentzis hat sie grandios aufgeführt und hat damit noch einmal die dramatische Geschichte der Belagerung Leningrads durch die Deutschen im zweiten Weltkrieg schmerzhaft in Erinnerung gerufen.
Magischer Spiegel
Mythen standen dieses Jahr im Mittelpunkt der Festspiele. «Mythen als magischer Spiegel für die grossen Themen unserer Existenz: Liebe und Tod, Krieg und Flucht, Schuld und Sühne», wie es Festivalgründer Hugo von Hofmannsthal einst formulierte.
So richtig los geht’s dann mit «Jedermann», dem Spiel vom Sterben des reichen Mannes. Dieses Jahr wieder mit Tobias Moretti in der Titelrolle und mit einer neuen Buhlschaft zur Seite, der russischstämmigen Valery Tscheplanowa. Toll war sie, sagen jene, die sie gesehen haben.
Den grossen Reigen der Opernaufführungen hat «Idomeneo» eröffnet.
Mozart hatte als junger Komponist zunächst grossen Erfolg mit diesem Werk. Ein Erfolg, der im Laufe der Zeit immer spärlicher wurde, sodass das Werk kaum mehr aufgeführt wurde. Erst in neuerer Zeit kramte man «Idomeneo» wieder hervor, bearbeitete das Stück tüchtig, und führte es wieder auf. Oft nur mit mässigem Erfolg. Nicht wegen der Musik, wohl aber wegen der gesprochenen Passagen. «Idomeneo» könne man nicht inszenieren, sagte mir Nikolaus Harnoncourt einmal in einem Interview, und da hat er wohl recht. Denn auch er hat es, zusammen mit seinem Sohn, selbst probiert mit der Regie, aber es ist auch ihm nicht so recht gelungen. Dass Regisseure sich an «Idomeneo» die Zähne ausbeissen und dann doch scheitern, zeigt sich auch in Salzburg wieder. Peter Sellers überfrachtete die Geschichte ideologisch, führte den Klimawandel ein und die Flüchtlingskrise, um zu guter Letzt auch noch Tänze aus der klimabedrohten Südsee zwischen Meeresmüll auf die Bühne zu bringen. So nicht, denkt man da nur und konzentriert sich mit Vorteil nur auf die Musik. Denn für die Musik ist Teodor Currentzis zuständig, der sich durchaus als Seelenverwandter Mozarts sieht und diesmal mit dem Freiburger Barockorchester in der Felsenreitschule antrat. Durch das Weglassen einiger Rezitative und das Hinzufügen anderer Mozartpassagen hat er «Idomeneo» nach seinen Vorstellungen bearbeitet. Zur Freude der einen, zum Ärger der anderen, auf jeden Fall gab’s Diskussionsstoff für Publikum und Fachleute. Aber geklungen hat’s gut.
Die Diva ist erkältet
Ein Highlight in Salzburg ist natürlich immer Anna Netrebko. Dieses Jahr «nur» konzertant, als «Adriana Lecouvreur» von Francesco Cilea. Unvermeidlich neben ihr auf der Bühne: Ehemann Yusif Eyvazov, sichtbar schlank geworden seit dem letzten Mal. Und Anna wie immer in grosser Robe und grosser Aufmachung. Dann singt sie … und alle schmelzen dahin: Netrebko als Mass aller Dinge mit ihrer unvergleichlichen, dunklen Sopranstimme, mit ihrer Bühnenpräsenz und mit ihrer Ausstrahlung.
Die zweite Vorstellung sagte sie kurzfristig ab. Wegen einer Erkältung. Groll und Häme ergossen sich über sie. Die Wogen der Empörung gingen hoch: Teure Karten hatte man gekauft – nur wegen der Netrebko – und nun sprang eine Chinesin ein, die beim Publikum gar keine Chance hatte, egal wie gut sie gewesen sein mag. In der dritten Vorstellung war die Netrebko wieder da, kam, sang … und siegte.
Korkenknallen und Kindermord
Spektakulär dann «Orphée aux Enfers». Operetten gehören ja nicht so zum Salzburger Repertoire, aber der 200. Geburtstag von Jacques Offenbach machte es diesmal möglich. Regisseur Barrie Kosky – in Zürich wohlbekannt durch seine phänomenale «Macbeth»-Inszenierung – liess bei «Orphée» die Korken knallen: bunt, schrill, schräg und voller Tempo eroberte Offenbach die Salzburger Bühne. Im Orchestergraben gab Enrique Mazzola den Operetten-Takt an, der für die Wiener Philharmoniker nicht zum Alltag gehört, aber offenkundig eine freudige Abwechselung war. «Ausverkauft» hiess es beim Kartenverkauf – ein Wort, das der Intendant gerne sieht.
Gleich nebenan im Grossen Festspielhaus: «Médée», Luigi Cherubinis Oper über die grauselige Geschichte einer Mutter, die ihre beiden Kinder tötet. Inszeniert von Simon Stone, dem australisch-schweizerischen Regisseur, der schon am Theater Basel mit verschiedenen Inszenierungen für Aufsehen gesorgt hat. «Médée» kommt bei ihm daher, fast wie ein «Tatort» am Sonntagabend im Fernsehen, in starken Bildern, heutig, filmisch und spannend wie ein Krimi.
Salzburg wäre nicht Salzburg, wenn sich nicht auch die grossen Dirigenten sozusagen die Klinke in die Hand geben würden: von Riccardo Muti über Kirill Petrenko und Franz Welser-Möst bis zu Valery Gergiev, Teodor Currentzis und Yannick Nézet-Séguin waren sie alle da.
Und zuletzt, fast vor Torschluss, war auch «MeToo» in Salzburg angekommen: Placido Domingo, dem sexuelle Übergriffe vorgeworfen werden, die er vor dreissig Jahren begangen haben soll, dieser Placido Domingo stand auf der Bühne – und wurde demonstrativ bejubelt …
Treffpunkt Triangel
Im «Triangel», wo während der Festspiele die Stars ein- und ausgehen und wo die übrigen Gäste einen Blick von ihnen erhaschen oder sogar ein Selfie machen können, sind die grossen Namen jetzt nur noch auf der Speisekarte zu finden. Franz Gensbichler, der Wirt, ist fast mit allen Künstlern befreundet. Dass das «Triangel» ein derartiger Treffpunkt geworden ist, das habe sich einfach so ergeben, sagt er, während er sein Reservationsbuch auf Vordermann bringt.
Er sei ein Sensibler sagt Gensbichler von sich, deshalb kommen die Künstler gern zu ihm. «Ich spür’ die Menschen. Ich spür’ den Ärger, den Frust, wenn’s ihnen schlecht geht.» Mit der Anna Netrebko kann er’s besonders gut. «Ja des is e G’schicht ... wir kennen uns schon so lang, mer san ganz eng befreundet, jeder woass, wie der andere fühlt oder ob man einen Witz machen derf oder nicht …»
Dann wird er philosophisch: «Das Leben is’ nicht immer ein Honigzuckerlpferd, es is’ au amol bitter. Und ein Sänger, ein Musiker oder Schauspieler, wenn die a schlechte Lebensphase hab’n, dann schau’n wir, dass wir sie durchbringen.»
Mit Trüffelnudeln, Fischsuppe, Wiener Schnitzel oder Marillen-Palatschinken. Je nachdem. Geholfen hat’s immer.