„Lass mich gehen!“ Kein Satz wird an diesem intensiven Theaterabend so oft ausgesprochen wie dieser. „Lass mich gehen“ meint im Stück „Libera me“ die Flucht des lebensmüden Vaters vor seinem Sohn, der ihn mit ganzer Kraft am Leben und bei sich halten will.
Ein Stück über Ablösung
Ein Stück über Ablösung, und das in einem Theaterraum, von dem eine ganze eingeschworene Gemeinschaft sich in den nächsten Wochen verabschieden muss. Denn die Bagger sind schon aufgefahren am Bahnhofplatz von Dornach im letzten solothurnischen Zipfel, der in den Kanton Baselland hineinragt. Gegenüber des neu gestalteten Dornacher Bahnhofs soll eine Grossüberbauung, hauptsächlich für Wohnungen, entstehen.
Da hat das romantische alte Kino, das seit nunmehr 10 Jahren dem Theater als Spielort dient, keinen Platz mehr. Das Verständnis für die frühen, immer mehr verschwindenden Kinobauten hat sich leider noch nicht durchgesetzt – und demnächst wird es zu spät für den Erhalt und eine vernünftige Umnutzung dieser kulturhistorischen Bauten sein (von löblichen Ausnahmen abgesehen, wie zum Beispiel dem Zwischenkriegs-Bau des Kinos „Royal“ von Tavannes im Berner Jura, das zu einem schicken Restaurant und Treffpunkt umfunktioniert worden ist.)
Vom Kino in den früheren Saferaum einer Bank
Zu Weltgeltung kam das grosse Dorf wegen des Sitzes der Anthroposophie im Goetheanum, dessen von Rudolf Steiner entworfener, wuchtiger Betonbau den Ort überragt. Unten im Ort befindet sich u.a. das alte Dornacher Kloster, das mit der Einrichtung eines gut gehenden Restaurantbetriebes eine wichtige Öffnung vollzogen hat.
Die zweite, sowohl der kontemplativen als auch lustvollen Seite des Lebens gewidmete Einrichtung, ohne jegliche ideologische Bindung und nur guter Kunst verpflichtet, bildet das vom Schauspieler und Regisseur Georg Darvas und seiner Lebenspartnerin, der Produzentin Johanna Schwarz, gegründete Theater im alten Kino. Sie nannten das Unternehmen zukunftsfroh das „Neue Theater am Bahnhof Dornach“. Nun, da das Haus soeben sein 10jähriges Bestehen feiern konnte, ist es auch nicht mehr ganz so neu und ruft an sich schon nach einem geänderten Namen.
Die Suche nach neuen Räumlichkeiten läuft seit rund zwei Jahren. Inzwischen hat sich auch ein unterstützender Verein gebildet, und die Akzeptanz in der Gemeinde und den Kantonen Baselland und Solothurn ist erfreulich positiv. Obwohl, wie Johanna Schwarz verriet, heute mehrere Eisen für einen neuen Theaterraum im Feuer seien, muss das Theater inzwischen – man rechnet mit zwei Jahren ohne festes Haus – nach Basel und dort vor allem in den Saferaum des Kultur-Unternehmens Mitte ausweichen.
Vom Kinosaal in den Saferaum einer früheren Bank – wie wander- und wandlungsfreudig ist Kultur heutzutage doch wieder geworden! Und auch wenn es aus äusseren Zwängen geschieht – der Thespiskarren muss beweglich bleiben. Wo kämen wir Theaterbesessenen sonst hin? Stillstand und Theater sind nicht miteinander zu vereinbaren.
Ringen um Befreiung
Stillstand jedoch wird, um auf Joshua Sobols Zweipersonen-Stück „Libera me“ zurückzukommen, vom ganz in sich und seine Lebensenttäuschung versunkenen Vater aufs Beharrlichste angestrebt. „Am Ende der Tage keine Liebe, keine Freude, keine Hoffnung.“ Diese Hoffnungslosigkeit bricht sich in der Interpretation durch Georg Darvas in geradezu trotzigen, verzweifelt abwehrenden Ausbrüchen Bahn. Ihm gegenüber zeichnet Oliver Zgorelec den um den Lebenswillen des Vaters kämpfenden Sohn mit sanfter Bestimmtheit, die, anrennend gegen die unerschütterbare Abwehr des Vaters, immer mehr bröckelt, bis er den alten Mann gehen lässt.
Der Abend erfährt in diesem von beiderseitiger Liebe, aber fast antikisch wirkender Unvereinbarkeit des ethischen Anspruchs getragenen Zweikampf eine beeindruckende Spannung und Steigerung. Und es wird immer mehr klar: Das Loslassen wird von beiden, sowohl vom Vater als auch vom Sohn, eingefordert. Beide müssen sich voneinander befreien.
Zu den beiden Protagonistenstimmen gesellen sich nächtliche Alltags- und Naturgeräusche, die, nach Aussagen des Autors, ursprünglich das eigentliche Gerüst des Stückes ausgemacht hatten. Einzelne Musikeinspielungen von alten Songs, die eine Art Bindeglied des Alten und des Jungen bilden, finden ihre ernste Ergänzung im erst gegen Schluss erklingenden „Libera me“ aus dem Requiem von Gabriel Fauré (übrigens ein bei uns viel zu selten aufgeführtes Werk!). Das Stück wurde auf Hebräisch geschrieben und erlebte, in der Übersetzung von Inka M. Paul, seine deutschsprachige Erstaufführung 2009 in Wien.
Theaterautor von Weltgeltung
Das Stück wurde vom Autor – bereits als drittes seiner Stücke am NTaB - selbst inszeniert. Er vermeidet, bei allem Realismus, gekonnt jegliches Selbstmitleid oder falsche Sentimentalität. Das schlichte Bühnenbild von Edna Sobol konzentriert sich ganz darauf, den beiden Protagonisten einen wertfreien Raum zu lassen – ähnlich etwa einem Bühnenbild zu einer Beckett-Inszenierung.
Sobol aber ist kein Autor des absurden Theaters. Bei ihm geht es immer um das Existentielle. Nicht umsonst wurde ja auch sein 1984 erschienenes Stück „Ghetto“ in der Inszenierung von Peter Zadek ein Welterfolg. 1988 kam es nach der Uraufführung von „Das Jerusalem Syndrom“ zu heftigen Protesten in ganz Israel, worauf Sobol als künstlerischer Leiter des Haifa Municipal Theatres zurücktrat und sich fortan vor allem dem Schreiben und der Regie widmete. Aber der Kreis schliesst sich: In der laufenden Spielzeit inszeniert Sobol „The Jerusalem Syndrom“ mit Schauspielstudenten in Tel Aviv.
Von der harten Liebe zwischen Söhnen und Vätern
Joshua Sobol beschäftigte sich mit dem Problemkreis Alter bereits in seiner allerersten Arbeit „The Days to come“, das 1971 herauskam. In einem Gespräch über das Stück „Libera me“ sagt er heute: „Im alten Menschen bleibt auch immer die Erinnerung an den jungen Menschen, der er einmal gewesen war.“ Und weiter: „Dieses Stück handelt von einer sehr schmerzhaften Liebe: der besonderen Art von harter Liebe zwischen Söhnen und Vätern.“
„Libera me“ von Joshua Sobol in: Neues Theater am Bahnhof Dornach. Aufführungen: 25., 27., 31.3., 2., 8., 10., 14., 16., 30.4., 1.5.