Der Ukraine-Krieg zerstört auch Gewissheiten. Er sät Zweifel an der Politik des Westens gegenüber Russland und dem ehemaligen Ostblock. Trägt der Westen eine Mitschuld am Vorgehen Putins? Und enthält nicht manches von dem, was Putin zur Rechtfertigung seines Krieges vorbringt, ein Körnchen Wahrheit?
Thomas Urban ist ein ausgewiesener Kenner der osteuropäischen Geschichte und Politik. Er war Korrespondent der Süddeutschen Zeitung in Moskau, Kiew und Warschau. Er spricht die Landessprachen und lebt mit seiner Frau in Polen. Zuletzt erschien sein Buch über die Versäumnisse der deutschen Ostpolitik, «Verstellter Blick. Die deutsche Ostpolitik».
Klare Positionen
Die Themen, um die teilweise seit Jahrzehnten gestritten wird und die für eine tiefe Verunsicherung sorgen, in Form eines Lexikons abzuhandeln, bringt immense Vorteile. Denn herausragende Orte und Personen bilden wie von selbst die Schlagworte, um die jeweils die politischen Debatten kreisen. War Gorbatschow der Ermöglicher der deutschen Einheit und war Egon Bahr tatsächlich der erfolgreiche Architekt der deutschen Ostpolitik, die am Ende zur Auflösung des Ostblocks führte?
Es sind nicht nur diese Fragen, um die das Lexikon von Thomas Urban kreist. Noch grössere Brisanz haben umstrittene Themen wie die, ob die Ukraine nicht genuin zu Russland gehört. Gerade diese Frage dient in manchen Debatten dazu, der Besetzung der Krim im Jahr 2014 und dem Überfall auf die Ukraine vor zwei Jahren einen Hauch von Legitimität zu verleihen.
Zu allen Themen, die Thomas Urban abhandelt, bezieht er klare Positionen und räumt Halbwahrheiten und Verdrehungen Putins ab. Seine Urteile basieren auf Fakten, auf die er sich zum Beispiel aufgrund seiner detaillierten Kenntnis neuerer Funde aus osteuropäischen Archiven beziehen kann. Aber Thomas Urban verfügt nicht nur über ein detailliertes historisches Wissen, sondern er ist auch ein politischer Kopf. Er hat ein Gespür für politische Spannungen und Entwicklungen. Dadurch kommt er zu sehr scharfen Urteilen gerade in Bezug auf die Wirkungen, die deutsche Politiker im Osten, aber auch bei ihren westeuropäischen Nachbarn zu verantworten haben.
Scharfe Kritik an Merkel
Besonders scharf geht er mit Angela Merkel ins Gericht. Ihre Politik ist in seinen Augen durch Widersprüche und Opportunismus geprägt. So erwähnt Thomas Urban, dass Angela Merkel im Jahr 2015 zum 70. Jahrestag des Kriegsendes nach Moskau gereist ist, um bei den Feierlichkeiten «zur Überraschung aller Anwesenden» von der «verbrecherischen und rechtswidrigen Annexion der Krim» zu reden. Putin konnte seinen Ärger kaum zügeln.
Dann aber, im Dezember 2015, stellte sie sich auf einem EU-Gipfel gegen jeden Zweifel an der Zuverlässigkeit Russlands als Energielieferant. Und nicht nur das: Als Oppositionsführerin wandte sie sich gegen die Russlandpolitik Schröders, um als Kanzlerin genau seinem Kurs zu folgen und mit Nord Stream II die Abhängigkeit von Russland noch weiter zu verstärken – wobei die Ukraine umgangen wurde. Interessanterweise konzediert Tomas Urban Gerhard Schröder ehrenwerte Absichten: Der Vorwurf, «er habe sich nur des schnöden Mammons wegen verkauft», sei «zweifellos ungerecht. Vielmehr dürfte er der festen Überzeugung gewesen sein, mit der Übernahme von Spitzenposten bei Gazprom und Rosneft nicht nur Deutschland, sondern auch den EU-Partnern nützen zu können».
Die Osterweiterung
Wer das Lexikon von Thomas Urban zur Hand nimmt, verbindet damit sicherlich Fragen, die in den Debatten um den Ukrainekrieg wieder und wieder gestellt werden: Hat der Westen mit seiner Osterweiterung der Nato Russland derartig provoziert oder in Bedrängnis gebracht, dass daraus die militärischen Reaktionen entstehen mussten? Und hat sich der Westen durch seine massive Unterstützung der Protestbewegung auf dem Maidan unzulässig in die inneren Angelegenheiten des Ostens eingemischt?
Wie schon in seinen früheren Beiträgen verweist Thomas Urban darauf, dass sich nach dem Zerfall des Warschauer Pakts zahlreiche östliche Länder aus eigener Initiative um eine Mitgliedschaft in der Nato bemüht haben. Der Grund liegt im aggressiven Auftreten Russlands in einzelnen Nachbarländern, wovon die beiden Tschetschenienkriege die abschreckensten Beispiele bieten. Dabei habe der Westen zunächst gezögert, um keine neuen Konflikte mit Russland zu provozieren. Ganz besonders fatal war, wie Urban im Einklang mit zahlreichen anderen Experten hervorhebt, die Ablehnung des Aufnahmebegehrens der Ukraine und Georgiens, das von den USA unterstützt wurde. Auf der entscheidenden Konferenz in Bukarest 2008 setzten sich Angela Merkel und Nikolas Sarkozy gegen den amerikanischen Präsidenten Bush durch und haben Verhandlungen über den Beitritt lediglich «in Aussicht gestellt». Urban kommentiert, dass Putin diese «schwammige Formel» auf «seine Weise» interpretiert habe: «Die Deutschen und die Franzosen akzeptieren, dass die Ukraine und Georgien zur russischen Einflusszone gehören. Vier Monate später liess er seine Truppen in Georgien einmarschieren.»
Die Maidan-Bewegung
Viel wird auch über die finanzielle Unterstützung der Protestbewegungen in der Ukraine seitens der USA diskutiert. Berüchtigt ist die Aussage der amerikanischen Diplomatin Victoria Nuland von 2013, wonach die USA seit 1991 etwa fünf Milliarden Dollar ausgegeben hätten, um Demokratiebewegungen zu unterstützen. Dagegen hält es Thomas Urban für «abwegig», anzunehmen, damit die Durchschlagskraft der Protestbewegungen erklären zu können: «Schon allein die Euphorie, mit der Hunderttausende auf die Strassen gingen, widerlegt diese auch von Putin gerne zum Besten gegebene Version.»
Urban sieht diese Protestbewegung in der Tradition des Prager Frühlings von 1968, der Solidarność von 1980 und dem ostdeutschen Wendeherbst von 1989. Putins Verdacht, dass es es dem Westen nur darum gegangen sei, Russland einzukreisen, sei eine «für ihn typische Verschwörungstheorie».
Urbans Lexikon für Putin-Versteher ist ebenso informativ wie unterhaltsam. Man liest die Kapitel unter den jeweiligen Stichworten wie gut geschriebene detaillierte Zeitungsartikel. Thomas Urban hat auch Sinn für die bisweilen skurrilen Seiten der an sich eher trüben Geschichte des Ostens. So zieht der gläserne Sarg Lenins auf dem Roten Platz in Moskau bis heute zahllose Besucher an. Allerdings handelt es sich bei den sterblichen Überresten nach vereinzelten Zeitungsberichten, «die aus der Zeit vor der Rückkehr der Zensur stammen», seit Langem um eine Wachspuppe.
Thomas Urban: Lexikon für Putin-Versteher. Berlin: edition.fotoTAPETA, 2023. 224 Seiten, 15 Euro.