Thomas Urban geht mit der deutschen Ostpolitik hart ins Gericht. Fehleinschätzungen, Versäumnisse und Brüskierungen der östlichen Nachbarn sind in seinen Augen die Regel, nicht die Ausnahme. Die deutsche Arroganz hat erschreckende Ausmasse.
Der Titel des Buches, «Der verstellte Blick», markiert eine scharfe Diagnose. Der Blick kann durch Ignoranz oder Eigennutz verstellt sein. Beide können zum Beispiel darin bestehen, dass man mit seinen Nachbarn ein friedliches Auskommen wünscht, dafür aber auf die falschen Partner setzt. Und dass man auch nicht bereit ist, sich den Mühen der Erkenntnis und der Revision von Vorurteilen zu unterziehen. Der Blick kann sich verstellen, weil auch beste Absichten nicht ohne klare Wahrnehmung auskommen.
Falsche Einschätzung der Solidarność
Das geschah in besonders markanter Weise, als sich in Polen die Solidarność bildete und mit ihren Aktionen die bisherigen starren politischen Schemata und Konstellationen veränderte. Die insbesondere von Willy Brandt und Egon Bahr vorangetriebene Ostpolitik setzte ganz darauf, mit den bisherigen Machthabern in einzelnen Fragen ein Auskommen zu finden. Als Willy Brandt nach seinem berühmten Kniefall von 1970 im Jahr 1985 Warschau erneut besuchte, traf er sich nicht mit dem ebenfalls mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichneten Arbeiterführer Lech Wałęsa, um seine Gastgeber nicht zu verärgern. Dass eine oppositionelle Bewegung das gesamte Machtgefüge dramatisch ins Wanken bringen könnte, lag jenseits des Interesses dieser Politik. Auch Helmut Schmidt verkannte die politische Bedeutung der Solidarność völlig.
Die Repression unter Wojciech Jaruzelski wurde damit gerechtfertigt, dass sein Regime einer Intervention durch die Sowjetunion zuvorgekommen sei. Diese Fama ist durch Materialien, die im Archiv des Moskauer Zentralkomitees lagern, widerlegt. Zwar wurde zeitweilig ein Einmarsch erwogen, dann aber wegen der katastrophalen Folgen eines möglichen Wirtschaftsembargos durch den Westen verworfen.
Thomas Urban arbeitet auch heraus, wie stark der Einfluss des damaligen Papstes Johannes Paul II. auf die Solidarność war. Der deutschen Ostpolitik fehlte ein Gespür für die Motive und geistigen Kräfte, die immer stärker zu sich selber fanden, wuchsen, wobei ihnen eine entsprechende Resonanz namentlich aus Deutschland zusätzlich geholfen hätte.
Hang zur Gewalt
Diese kritische Sichtweise von Thomas Urban weckt besonderes Interesse an seiner Beurteilung der sogenannte Osterweiterung der Nato. Es würde nicht überraschen, wenn er mit der Arroganz, die dem Westen wiederholt vorgeworfen wird, hart ins Gericht ginge. Aber es geschieht das genaue Gegenteil. Er stellt klar, dass es bei der Behauptung, der Westen habe zumindest mündlich Versprechen abgegeben, die Nato nicht nach Osten auszuweiten, um eine Propagandalüge Putins handelt. Er führt das kurz und überzeugend aus. Darüber hinaus weist er auf die überragende Bedeutung der beiden Tschetschenien-Kriege hin. Sie waren es, die in den Ländern Osteuropas die Nachfrage nach einer Nato-Mitgliedschaft enorm steigerten.
Denn mit grosser Sorge und grossem Misstrauen beobachteten diese Länder die exzessive Gewaltbereitschaft, die sich schon unter Boris Jelzin zeigte. So liess er 1993 das Parlamentsgebäude, in dem sich seine Gegner im Zusammenhang mit einem Verfassungskonflikt versammelt hatten, durch Beschuss in Schutt und Asche legen, obwohl, wie Urban trocken bemerkt, es völlig gereicht hätte, Strom und Wasser abzuschalten, um die Revolte in kurzer Zeit zu beenden. Noch gravierender ist, dass der Anlass für den ersten Tschetschenien-Krieg von 1994/95 keinen wirklichen Kriegsgrund darstellt. Der tschetschenischen Führung ging es neben grösserer staatlicher Unabhängigkeit auch um eine gerechtere Verteilung der Einnahmen aus dem Erdöl- und Gasgeschäft. Als Antwort legte Russland Grozny in Schutt und Asche. Es sei mit grosser Besorgnis erkannt worden, wie Russland mit seinen Nachbarn umgeht.
Dieses Muster wiederholte sich beim zweiten Tschetschenien-Krieg. Der Einsatz militärischer Gewalt war überbordend. Er zeigte unabweislich, dass die russische Führung unter Putin keinerlei Skrupel kennt. Unter diesen Vorzeichen war es für Länder wie Polen und die Ukraine ein Gebot der Vernunft, sich um die Mitgliedschaft in der Nato zu bemühen. Ein trübes Kapitel wiederum besteht darin, dass sich namentlich Angela Merkel beim Nato-Treffen in Bukarest 2008 den Amerikanern in den Weg gestellt und die formelle Aufnahme Georgiens und der Ukraine darauf heruntergeschraubt hat, dass sie «in Aussicht gestellt» wurde. Die Folgen dieses «Kompromisses» sind mittlerweile nur allzu evident.
Russland-Versteher
Urban wirft westlichen Politikern, insbesondere Angela Merkel und Frank-Walter Steinmeier vor, sich viel zu wenig mit den zum Teil verwickelten Eigenheiten der politisch-kulturellen Geschichte der Regionen, um die Kriege geführt werden, beschäftigt zu haben. So ist ihnen nicht klar geworden, dass es einen Unterschied gibt zwischen russisch sprechender Bevölkerung und Russen. Nicht jeder, der Russisch spricht, ist Russe, und entsprechend fragwürdig können Gebietsansprüche sein.
Mit einem Schuss Selbstironie bezeichnet sich Thomas Urban als Russland-Versteher. Seine Eltern stammen aus Breslau, das nach dem Krieg zum polnischen Wrocław wurde. Als er dort an einem Polnisch-Kurs teilnahm, lernte er seine spätere Ehefrau Ewa kennen, deren Eltern ihre Heimat im heute zur Ukraine gehörenden Teil Galizien verloren hatten. Flucht und Vertreibung sind für ihn Familienthemen. Dazu kommt seine grosse Liebe zur Literatur, gerade auch der russischen. Von Lew Kopelew, dessen Mitarbeiter er zeitweilig war, hat er viel über das Denken der osteuropäischen Eliten gelernt. Urban arbeitete als Korrespondent der Süddeutschen Zeitung in Warschau, Kiew, Moskau und Madrid.
Diese tiefe Sympathie für die Kultur Osteuropas, gerade auch der russischen, hindert ihn aber nicht daran, die vielfältigen Verbrechen russischer und anderer Völkerschaften in aller Klarheit zu benennen. Und die kommunistische Ideologie zielt auf Gewalt. Die Völker des Ostens haben in wechselnden Konstellationen unsäglich darunter gelitten. Es war Wunschdenken des Westens, die Augen davor zu verschliessen und zum Beispiel die Annexion der Krim nicht als gewaltsamen Bruch gerade auch neuerer Abkommen und Garantien anzusehen, sondern mit höchst fragwürdigen ethnischen und kulturellen Argumenten weichzuspülen.
Vertreibungen und Entschädugungsansprüche
Ausführlich geht Thomas Urban auf Auseinandersetzungen ein, die mit Gebietsansprüchen und Vertreibungen im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg stehen. Das Schicksal der deutschen Vertriebenen ist dabei nur ein Thema in einer weit verzweigten Geschichte des Grauens. Die Gerechtigkeit würde erfordern, diese Vorgänge nicht nur zu dokumentieren, sondern sie auch zu würdigen. Dazu gab es Versuche wie zum Beispiel mit dem Zentrum gegen Vertreibungen, ZgV. Urban schildert nun akribisch, wie diese gute Absicht durch politische Ignoranz und Parteitaktik ruiniert wurde. In diesen Zusammenhang stellt er den «Aufstieg der Kaczyńskis». Aus deutscher Perspektive erscheinen sie als blosse Nationalisten oder Rechtspopulisten. Denn weder die deutschen massgeblichen Politiker noch die Presse haben sich je die Mühe gemacht, die differenzierten Vorgänge zu verstehen und auf die Ansprüche und Empfindlichkeiten der polnischen Seite einzugehen.
Das Ganze ist eine quälende Geschichte. Man kann daraus nur lernen, wie gute Absichten und beste Ideen in ihr Gegenteil verkehrt werden, wenn sie nur lange genug parteipolitisch zermahlen werden. Am Ende weiss niemand mehr, was eigentlich beabsichtigt war – und alle sind beschädigt.
Das gilt auch für die Art, wie in Deutschland «Vergangenheitsbewältigung» zelebriert und wie diese in Polen wahrgenommen wird. Aus polnischer Sicht gibt es vieles, was dringend zurechtgerückt werden müsste. In diesen Zusammenhang gehören auch die neuen Forderungen nach Reparationen. Deutschland ist formal im Recht, wenn es darauf besteht, dass die Ansprüche auf Reparationen in einer Verzichtserklärung 1953 von polnischer Seite als erledigt bezeichnet wurden. Aber Thomas Urban macht darauf aufmerksam, dass die damaligen Unterzeichner Vertreter einer stalinistischen Regierung waren, deren Legitimität heute ganz sicher nicht mehr anerkannt würde. Noch Fragen?
Konzentrat von Erfahrungen
Die Argumentationen von Thomas Urban sind verzweigt und differenziert. Aber er schafft es, sie äusserst einprägsam zuzuspitzen. So hat das Auswärtige Amt unter Joschka Fischer und Frank-Walter Steinmeier keinen Botschafter nach Warschau geschickt, der Polnisch sprach. In Zeiten der Talkshows, in denen auch in Polen heftig über Politik gestritten wurde, gab es also keinen deutschen offiziellen Ansprechpartner, der zu den heiklen Themen, die wiederum zur Stärkung des Nationalismus beitrugen, hätte Stellung beziehen können. Das änderte sich erst mit der Berufung von Rüdiger von Fritsch im Jahr 2010. – Die fatale Ignoranz des Auswärtigen Amtes zeigte sich auch darin, dass, wie Thomas Urban süffisant bemerkt, der Botschafter in Madrid kein Spanisch konnte.
Das Buch von Thomas Urban zeigt in erschreckender Klarheit, dass die deutsche Politik nicht nur gegenüber Polen, sondern auch gegenüber den anderen Ländern Ostmitteleuropas, aber auch gegenüber der EU und den USA von erschreckender Blindheit und Arroganz geprägt ist. Allen Warnungen und Einwänden zum Trotz hielt die deutsche Politik an Nord Stream 2 fest und verfolgte auch auf anderen Feldern, wie Thomas Urban in seinen etwas ausufernden Schlusskapiteln darlegt, allzu oft nationale Interessen. Deutschland hat nicht nur in Richtung Osten einen «verstellten Blick».
Das Buch von Thomas Urban wirkt äusserlich schmal. Aber es ist wie ein Konzentrat seiner Erfahrungen, seines Wissens und Denkens. Er öffnet und erweitert den Blick des Lesers.
Thomas Urban: Verstellter Blick. Die deutsche Ostpolitik. Edition.fotoTapeta_Flugschrift, 191 Seiten, ca. 15 Euro